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Am nächsten Morgen wurde Nora Hill mit dem Frühstück ein Brief auf ihr Zimmer im Hotel ›Aviz‹ gebracht. Der Brief stammte von Jack Cardiff. Er schrieb, wenn Nora diese Zeilen läse, sei er schon in einem Flugzeug auf dem Weg nach London, er müsse dringendst heim zu seiner Dienststelle und darum die erste Frühmaschine nehmen. Er glaube nicht, schrieb Jack Cardiff, daß er noch einmal nach Lissabon zurückkehren könne. Er bat Nora herzlich, ihm zu verzeihen. Nie werde er sie vergessen können. Nora las den Brief zweimal, dann zerriß sie ihn in kleine Stücke. Ihr Rücken schmerzte kaum noch. Sie dachte, daß sie sich umbringen wollte, aber sie hatte sehr großen Hunger, und so frühstückte sie zuerst. Nach dem Frühstück wollte sie sich nicht mehr umbringen. Es erschien ihr plötzlich sinnlos, so etwas zu tun. Alles erschien Nora Hill von diesem Tage an sinnlos.
In den wenigen Monaten, die noch bis zum Kriegsende verstrichen, wurde Nora Hill eine stadtbekannte Erscheinung. Sie hatte zahlreiche, hemmungslose, hektische Affären, die ebenso abrupt begannen wie endeten. Sie war auf jeder Party zu sehen. Sie tanzte und trank bis in den Morgen. Wenn ein Mann ihr gefiel, ging sie mit ihm. Es geschah, daß sie, neben einem solchen Mann in einem fremden Bett aufwachend, den Namen ihres neuesten Geliebten nicht kannte. Sinnlos, sinnlos war alles geworden. Sinnlos erschien Nora auch die hohe britische Auszeichnung, die der Botschafter Seiner Majestät ihr für Verdienste um die Vereinigten Königreiche dann Ende Mai überreichte. Sinnlos erschien es Nora, länger in Lissabon zu bleiben. Der britische Botschafter, ein älterer Herr, der sie verehrte, brachte es umgehend fertig, daß man ihr einen Platz in einem Kurierflugzeug der ›Royal Air Force‹ reservierte, das nach Wien flog, denn Nora wollte nach Wien. Offiziere, die von dort kamen, berichteten ihr, daß die Sowjets Carl Flemming verhaftet und in die Sowjetunion gebracht hätten. Nach menschlichem Ermessen kehrte er nie mehr zurück. Um so besser! Nora wollte allein sein, allein in einer Stadt, in der sie nichts an Jack Cardiff erinnerte.
Ihre Maschine startete gegen Mittag des 6. Juni 1945.
Als Nora Hill sich am Morgen dieses Tages aus ihrem Bett erheben und ins Badezimmer gehen wollte, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, daß die Beine vor Schwäche einknickten. Sie konnte sie kaum bewegen. Drei Tage später war Noras Körper gelähmt – von den Hüften bis zu den Zehen.