21

»Ein Anfall eben«, sagte Martin Landau. »Ging vorüber, natürlich. Ich hatte schon so viele. Ich bin sicherlich bereits hundertmal fast gestorben. Man gewöhnt sich daran.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Zehn nach fünf. Es tut mir leid, Herr Aranda, aber ich muß zurück in die Buchhandlung. Schnell. Sie wissen doch … Tilly …«

»Natürlich.« Manuel erhob sich mit ihm. Die Sonne war untergegangen, im Salon des Appartements wurde es dämmrig. Der Ostwind hatte nachgelassen. Vereinzelt fielen schon wieder Schneeflocken. »Ich danke Ihnen sehr, Herr Landau.«

»Keine Ursache. Das ist ein guter Treffpunkt«, sagte der kleine Buchhändler, während Manuel ihm in den Mantel half. »Ich komme wieder hierher und erzähle weiter.«

»Wann?«

»Tja, morgen ist Samstag, da geht es nicht. Sonntag auch nicht. Aber Montag immerhin! Montag, wieder um drei?«

»Sehr gut.« Manuel berührte die Schulter des zierlichen Mannes. »Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, Herr Landau.«

Der kicherte.

»Weil Sie mich für einen feigen Schwächling gehalten haben? Entschuldigen Sie sich nicht. Ich bin ein feiger Schwächling! Nur damals … ja, das war immerhin die beste Zeit in meinem Leben, dieser Prozeß! Damals war ich einmal, einmal in meinem Leben anders!« Er sagte leise: »Valeries wegen … und dann … Wissen Sie, ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich mich so befreien konnte von meiner großen Schuld.«

»Schuld?«

»In der Partei zu sein. Nein, nein, widersprechen Sie nicht, es war immerhin schon so, wie Valerie sagte. Nicht Heil schreien und nicht flennen vor Begeisterung hätte man sollen am Anfang, dann wäre einem schon am Anfang klargeworden, was das für Menschen waren, was da auf uns zukam …« Nach einer Pause fuhr er fort: »Valerie rief bereits am nächsten Tag diesen Doktor Forster an. Für den Samstag bestellte er sie. In der Zwischenzeit dachten wir uns eine Geschichte aus, Valerie und ich. Die hat sie dem Anwalt dann erzählt.« Landau lachte. »Gott, waren wir naiv!«

»Naiv?«

»Nicht die geringste Ahnung hatten wir, wie so ein Prozeß verlief. Nicht die geringste Ahnung hatten wir, was da auf uns zukam … Aber ich muß jetzt fort, wirklich!«

»Gewiß. Sagen Sie mir noch eines: Hat Frau Steinfeld den Prozeß gewonnen oder verloren?«

Sehr hoch hob sich Landaus Schulter, sehr schief legte sich sein Kopf. Er antwortete sehr leise: »Sie hat ihn gewonnen und verloren.«

»Was heißt das?«

»Das kann ich Ihnen jetzt nicht erklären. Sie müssen sich schon die ganze Geschichte anhören.«

»Also gut. Aber etwas anderes werden Sie mir doch sagen können: Was ist mit Heinz geschehen?«

Wieder sehr leise antwortete Landau: »Er vertrug sich nicht mehr richtig mit seiner Mutter, es wurde immer schlimmer. Die Nazis überlebte er. Aber dann, 1947, starteten die Kanadier ein großes Einwandererprogramm. Und da meldete er sich sofort und ging nach Quebec. Ein Jahr später lief er in ein Auto hinein … Er war sofort tot.«

»Und Paul Steinfeld?«

»Der starb knapp nach Ende des Krieges, in England.«

Und wieder die Lügen, dachte Manuel. Jedesmal, wenn ich diese Frage stelle, belügt man mich. Warum? Werde ich jemals die Wahrheit erfahren?

»Wie traurig«, sagte Manuel.

Er brachte seinen Besucher bis zum Lift, dann kehrte er in den Salon zurück. Hier saß er lange, während es dunkel wurde im Raum, und dachte an seinen Vater.

Wenn sich mit Hilfe des Hofrats Groll herausstellte, daß es diesem Karl Friedjung, dem Direktor der Chemie-Staatsschule, wirklich gelungen war, bei Kriegsende unterzutauchen, wenn sich weiter beweisen ließ, daß dieser Karl Friedjung in Buenos Aires gelandet und den Namen Dr. Raphaelo Aranda angenommen hatte, dann war er, Manuel, der Sohn eines österreichischen Nazis, der den Anstoß zu jenem Verzweiflungsprozeß Valeries gegeben hatte.

Aber der Dr. Raphaelo Aranda war, das stand nun außer Zweifel, auch in eine Spionageaffäre verwickelt gewesen.

Warum hatte Valerie Steinfeld ihn getötet?

Aus politischen Motiven, selber verstrickt in die Affäre? Oder aus persönlichen – den Mann, der Unglück über ihr Leben gebracht hatte und der nun, durch einen Zufall, auf den sie ein Vierteljahrhundert gläubig gewartet hatte, noch einmal ihren Weg kreuzte, damit sie Rache nehmen konnte?

Oder mußte sein Vater aus beiden Gründen sterben?

Oder aus einem ganz anderen?

Gleichviel: Es war nicht mehr der wunderbare Mann, an den Manuel noch vor zwei Tagen im Keller des Gerichtsmedizinischen Instituts voll Trauer und Stolz gedacht hatte. Das würde er niemals wieder sein – falls nicht ein Mirakel geschah und sich alles, alles als falsch erwies, was Manuel bisher entdeckt hatte. Ach, aber ein solches Mirakel gibt es nicht, dachte er.

Zwei Tage! Zwei Tage haben genügt, lebenslange Bewunderung, Liebe und Vertrauen zu einem Menschen zu zerstören.

Manuel fühlte sich plötzlich todmüde, am Ende seiner Kraft.

Er dachte an Irene Waldegg und an den Freund, mit dem sie verabredet war, und dann dachte er schnell an etwas anderes, schaltete alle Lichter im Appartement ein und saß danach wieder reglos da, reglos …

Manuel Aranda blieb an diesem Abend im Hotel. Er aß im Speisesaal, verbrachte noch eine Stunde in der Bar, ging schließlich wieder nach oben, und als er lag, häuften sich neben seinem Bett Zeitungen, die er bestellt hatte, zu Bergen. Es waren sämtliche Blätter, die, zuerst als Aufmacher, später kleiner, Berichte über den rätselhaften Mord und Selbstmord in der Buchhandlung Landau veröffentlicht hatten. Manuel las sie alle. Er fand nicht einen Satz, nicht ein Wort, das ihn weitergebracht, das die Finsternis, durch die er seinen Weg entlangtappte, erhellt hätte, eine einzige Sekunde lang.

Knapp nach elf Uhr läutete das Telefon auf dem Nachttisch.

Groll meldete sich.

»Ja … ja, Herr Hofrat?«

Manuel fuhr in seinem Bett auf.

»Haben Sie schon geschlafen?«

»Nein.«

»Wir haben etwas gefunden, das Sie sehr interessieren dürfte.«

Manuel fragte atemlos: »Betrifft es Karl Friedjung?«

»Ja.«

»Sie wissen, wo er ist?«

»Wir wissen, wo er ist«, sagte der Hofrat Groll.

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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