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»Ich komme!« erklang eine helle, junge Stimme.
Aus dem bogenförmigen Durchgang zu einem weiteren Gewölbe, wo schwaches elektrisches Licht brannte, trat eine Frau in einem Kittel aus schwarzem Glanzstoff. Mechanisch drehte sie einen Schalter. Die trübe Beleuchtung hinter ihr erlosch. Nur der Schein der grünen Schreibtischlampe fiel auf die drei Menschen.
Schlank und mittelgroß war Valerie Steinfeld, Nora Hill hatte Fotografien von ihr gesehen. Dennoch erkannte sie die Frau nicht sofort wieder. Die Fotos waren vor Jahren gemacht worden. Auf allen Aufnahmen lachte Valerie Steinfeld, eine schöne junge Frau lachte glücklich und ausgelassen, ihr blondes Haar fiel in weichen Wellen über den Nacken und glänzte. Das tat es auch jetzt noch. Aber Valeries Gesicht hatte sich geändert.
Es sind die Augen, dachte Nora Hill, es ist der Mund. Diese blauen Augen, dieser volle Mund, sie haben seit Jahren nicht mehr gelacht, nicht mehr gelächelt. Sie sind noch immer schön, diese Augen, doch der Ausdruck, den sie zeigen, ist erschreckend. Diese Augen, dachte Nora Hill, sie können nicht mehr lachen. Sie können auch nicht mehr weinen. Valerie Steinfeld hat keine Tränen mehr.
Sehr abergläubisch, wie Nora war, wich sie, wo sie konnte, solchen Menschen aus. Sie wich den sehr Unglücklichen, den sehr Kranken und den sehr Verzweifelten aus. Sie bringen Unglück, daran glaubte Nora Hill. Sie suchte die Gesellschaft und Freundschaft der Reichen, der Glücklichen, der Mächtigen, der Sieger, nicht der Besiegten, die der Herrscher, nicht der Beherrschten.
»Bitte, Herr Landau?« Valerie Steinfeld sah den blassen Mann mit unbewegtem Gesicht an, nachdem sie mit ebenso unbewegtem Gesicht Nora kurz angesehen und den Kopf gesenkt hatte. Valerie besaß eine sehr blasse Haut.
»Diese Dame sucht …«, begann Landau mit zitternder Stimme, da ertönte draußen im Laden das Glockenspiel der Eingangstür.
Oh, die unendliche Erleichterung!
Landau dienerte, wobei das Licht der Lampe in der kleinen Kammer das Hakenkreuz auf seinem Parteiabzeichen aufblitzen ließ. »Verzeihen Sie, Fräulein. Kundschaft.« Er eilte davon. Beide Frauen lauschten kurz, wobei sie einander musterten. Valerie prüfend und ernst, Nora mit steigender Nervosität.
Achtunddreißig Jahre ist Valerie Steinfeld alt, dachte Nora Hill. Elf Jahre älter als ich. Ich halte ihren Blick schon aus, Herrgott, dieser Blick! Mit Mühe halte ich ihn aus. Jack, verzeih mir, ich bin hier im falschen Lager. Im ganz falschen. Keine Verzweifelten, keine Unglücklichen für mich. Ich muß sehen, daß ich diese Sache so schnell wie möglich hinter mich bringe. Dann verschwinde ich und sehe Valerie Steinfeld nie wieder. Es hat jeder genug mit seinem eigenen Leben zu tun. Ich interessiere mich nicht für dein Leben, dachte Nora, Valerie in die Augen starrend, ich will nicht daran teilhaben, nie, nie, nie!
»Ich suche den ›Glauben der Hellenen‹«, sagte Nora Hill.
»Aha«, sagte Valerie. Das war alles. Danach sah sie Nora weiter an, sachlich, höflich, absolut beherrscht.
Nora fühlte, wie sie wütend wurde, wütend auf sich selber, auf die Unlogik ihrer Empfindungen. Landau hatte sie für seine Feigheit verflucht. Valerie Steinfeld hätte sie dankbar sein müssen für solch beherrschte Haltung. Statt dessen fand sie diese Steinfeld unerträglich. Abgesehen von dem tiefernsten Gesicht war das leicht verstaubte Aschenputtel, das da vor ihr stand, auch noch sehr hübsch. Dies kam hinzu. Nie im Leben hatte Nora Hill eine Freundin besessen.
Bisher, dachte Nora, haben mich alle Weiber, mit denen ich zu tun hatte, entweder sofort verachtet oder sofort gefürchtet. Nun steht da eine vor mir, die tut scheinbar – scheinbar! – weder das eine noch das andere. Nun, dachte Nora, das wird sich ändern, meine Liebe, wenn ich dir alles gesagt habe, was ich zu sagen habe. Wollen sehen, ob du dich dann auch noch so beherrschen kannst.
»Verstehen Sie mich nicht?« fragte Valerie laut.
Sie hat etwas gesagt. Ich habe es nicht gehört, weil ich ihren Blick nicht mehr aushalten konnte und wegschauen mußte. Ich und vor einer anderen Frau wegschauen! Noch nie ist mir das passiert! Und ihre Stimme habe ich nicht gehört, weil ich so sehr mit meiner Aversion beschäftigt war.
»Ich sagte: Da gibt es zwei Werke. Das von Levy und das von Trockau.« Nun sahen sie einander wieder in die Augen. Der nächste Dialog klang wie ein Frage- und Antwortspiel, und er war es ja auch.
»Das von Trockau natürlich«, sagte Nora. »Das von Levy ist doch verboten.«
»Ja, eben. Trockau«, sagte Valerie. »Da existiert die einbändige Ausgabe 1929 …«
»Zweibändig.«
»Wie bitte?«
»Sie irren sich. Die erste Auflage war auch schon zweibändig. Ich brauche aber die zweite. 1931. Bearbeitet von Merian und Stähelin.«
Valerie Steinfeld trat langsam in die kleine Kammer und wandte Nora Hill den Rücken zu. Sie schien in den Regalen zu suchen. Den Eindruck mußte haben, wer hinter ihr stand. In Wirklichkeit hielt sie die Augen geschlossen. Ihre Hände umkrampften die Lehne eines alten Sessels vor einem vollgeräumten, alten Schreibtisch.
»Merian und Stähelin …«, sagte Valerie langsam. Der Rücken zuckte plötzlich. Nora bemerkte es. Ihr Selbstgefühl stieg wieder. Na also, dachte sie. Ein Übermensch bist du auch nicht. »Die wurden vor Monaten einmal bestellt«, fuhr Valerie gleichmütig fort. »Da habe ich sie nach vorn geholt und hier irgendwo bereitgelegt. Verkauft haben wir die Bücher dann doch nicht. Der Kunde kam nicht wieder. Aber wo sind die Bände nur?« Sie blickte, die Augen nun geöffnet, rundum.
Nora Hill trat hinter ihr in den kleinen Raum. Das ist also das ›Teekammerl‹, von dem Jack erzählte, dachte sie. Alles, wie er es geschildert hat. Der rostige Gasrechaud. Das angeschlagene Geschirr. Das Spülbecken. Rost und Grünspan am Wasserhahn. Das alte Ledersofa …
»Lassen Sie mich nachdenken«, sagte Valerie klanglos, die Bücherreihen entlangblickend. »Wo habe ich die Bände bloß hingestellt …«
Das Theater geht also weiter, dachte Nora. Es muß weitergehen. Theoretisch hätte auch ein Fremder nach dem ›Glauben der Hellenen‹ von Trockau, Bearbeitung von Merian und Stähelin, fragen können. Vielleicht war das sogar schon einmal passiert, und Landau zitterte deshalb so vor Angst, obwohl er wußte, daß da immer noch Sicherungen eingebaut waren.
»Hier ist es nicht … hier auch nicht …«
Valerie hatte, zum Teil über Möbel gebeugt und auf Zehenspitzen, einzelne Bücher aus den Reihen gezogen. Nun blickte sie Nora an, als wollte sie sagen: Man kann die Sache beenden, sprich!
»Vielleicht auf dieser Seite?« sagte Nora.
Valerie tat, als suche sie weiter.
Nora sah sich noch einmal in der Kammer um. Der abgetretene Teppich, von dem Jack erzählt hat, da ist er. Der schadhafte Schaukelstuhl, da steht er. In der Ecke der alte Ofen, rotglühend an einer Stelle. Wie laut er kollert! Von diesem Tischchen hier hat Jack mir nichts erzählt. Und auch nichts von dem Radioapparat darauf. Ein ›Minerva 405‹. Nora kannte die Type. Sieben Röhren, 1940 auf den Markt gekommen, das Stärkste und Beste, was es im Moment gab. Natürlich, von dem Radioapparat hat Jack nichts wissen können, dachte sie. Mit so einem Modell vermag man gewiß mitten in der Stadt und sogar am Tage London zu hören …
»Also ich weiß wirklich nicht, wo ich noch suchen soll … Die Bände müssen da sein, sie sind nie abgeholt worden«, sagte Valerie.
»Aber auch hier ist nichts.«
Nun war es Zeit.
»Doch, doch«, sagte Nora.
»Wo?« Das kam schwach. Jetzt war Valerie am Ende ihrer Kraft.
Nora blickte lächelnd umher und antwortete nicht.
»Wo?« fragte Valerie zum zweitenmal. Ihre Stimme hatte plötzlich jede Sicherheit verloren, sie vibrierte. Nora sah in Valeries Augen. Nicht länger starr und mutig waren die, ach nein, jetzt flehten diese Augen, bettelten. Bitte, bitte …
Na also, dachte Nora.
Sie sagte langsam und sehr deutlich: »Die Bände stehen vor Ihnen. Im fünften Brett von oben, links neben dem Sofa. Es ist das zwölfte und das dreizehnte Buch, von der Ecke aus gezählt.« Mit einer schnellen Bewegung trat sie vor und zog zwei schwere Bücher aus dem bezeichneten Regal. »Da, Band eins, da, Band zwei«, sagte sie und sah Valerie wieder an. Diese erwiderte den Blick unheimlich ruhig. Ihre Augen waren jetzt nicht mehr so hell und strahlend blau wie eben noch, sie waren dunkler. Nora Hill dachte an einen Aprilhimmel voller Regen. Sie muß sehr unglücklich sein, diese Frau, dachte Nora. Ich hoffe nur, daß die Begegnung mit ihr nicht auch mir Unglück bringt. Nora legte einen Band auf das große Radio und blätterte in dem anderen. »Bearbeitet von Merian und Stähelin, 1931!«
»Das freut mich für Sie«, sagte Valerie völlig gleichmütig. »Darf ich einmal nach dem Preis sehen?«
Nora erstarrte.
Moment, Moment.
Irgend etwas habe ich falsch gemacht. Sie hat alles richtig gemacht. Aber ich …
»Warten Sie!« Nora griff nach Valeries Arm. In ihrer Verwirrung und in der Wärme des Raums wurde ihr plötzlich glühend heiß.
»Bitte?« Valerie hob die Augenbrauen.
Was ist hier bloß los? dachte Nora verzweifelt. Was habe ich nur … Dann fiel es ihr ein. Und im gleichen Moment, da es ihr einfiel, empfand sie zum erstenmal Bewunderung für diese Valerie Steinfeld.
Wütend auf sich und ihre Überheblichkeit, und wütend auf die Frau, für die sie Bewunderung empfand, öffnete Nora die Handtasche und holte ein Stück gelb-blau bedrucktes Papier hervor. Es war an einer Seite in bizarrer Zickzack-Linie abgerissen. Man las: HELLERS ZIT …
Valerie Steinfeld kniete nieder, zog die unterste linke Lade des Schreibtisches hervor und kramte da, während Nora dachte: Zwei Erkennungszeichen sind vereinbart, nicht nur eines! Das zweite habe ich vergessen. Sie hat es nicht vergessen – trotz der Aufregung dieser Begegnung.
Valerie hatte gefunden, was sie suchte. Sie erhob sich. In der Hand hielt sie gleichfalls ein Stück gelb-blau bedrucktes Papier. Beide Frauen strichen ihre Stücke glatt. Nora legte die eine Hälfte auf den vollgeräumten Schreibtisch. Ganz langsam schob Valerie ihre Hälfte heran. Die schönen Hände waren schmutzig vom Staub der Magazine. Sie bewegte ihr Papier so lange, bis die Rißstellen genau in die Rißstellen der anderen Hälfte paßten. Die Teile, die so kunstvoll getrennt worden waren, bildeten nun zusammen eine Bonbontüte. Jetzt konnte man alles lesen, was auf ihr stand: HELLERS ZITRONENDROPS – EINE KÖSTLICHKEIT!
»Verzeihen Sie«, sagte Valerie ruhig.
»Was heißt verzeihen? Meine Schuld. Und meinen Glückwunsch. Sie kann man nicht überrumpeln!«
»Hoffentlich nicht«, sagte Valerie still, dann öffnete sie die Tür des kleinen Ofens mit einem Stochereisen und warf beide Papiere in die Glut. »Wie heißen Sie, Fräulein?«
»Hill, Nora Hill.«
Valerie schloß die Ofentür und setzte sich in einem plötzlichen Schwächeanfall schnell auf das alte Sofa, dessen Spiralfedern ächzten. Sie blickte zu Nora auf. Jetzt leuchteten ihre Augen wie die eines jungen Mädchens, das sich auf die Liebe freut. Ein Lächeln trat in das schöne Gesicht und erhellte es strahlend gleich einem Sonnenaufgang. Mit erstickter Stimme fragte Valerie Steinfeld: »Wie geht es ihm?«