24

Zu dieser Zeit lauschte der Anwalt Dr. Rudolf Stein gerade der bewegten Klage einer gewissen Victoria Rayo. Seine achtundzwanzigjährige, sehr attraktive und elegante Besucherin, Wienerin, erzählte dem Anwalt, an den sie sich, wie sie sagte, wegen seiner großen Erfahrung in solchen Fällen gewandt hatte, diese Geschichte: Fünf Jahre lang war sie die Freundin und Verlobte eines überaus vermögenden Fabrikanten in Innsbruck gewesen. Während dieses Zeitraums hatte sich der um viele Jahre ältere Mann zwei schweren Tumor-Operationen unterziehen müssen, was eine Heirat immer wieder verzögerte. Victoria Rayo sollte jedoch, so hatte ihr Freund feierlich versprochen, im Falle seines Todes die Haupterbin sein, eine Schwester, mit der er in Feindschaft lebte, nur ihren Pflichtteil erhalten. Eine Woche zuvor, am Abend ehe er sich in das Krankenhaus begab – eine neuerliche Operation war notwendig geworden –, hatte der reiche Mann angeblich der Schwester, die ebenfalls in Innsbruck lebte, ein Testament in die Schreibmaschine diktiert und es dann mit fast gelähmter rechter Hand mühsam unterzeichnet. Das Testament war durchaus in dem versprochenen Sinn abgefaßt gewesen, jedoch hatte der Kranke es unbegreiflicherweise verabsäumt, das nicht handgeschriebene Dokument von zwei Zeugen unterschreiben zu lassen. Solches erschien bei einem gewieften Geschäftsmann höchst ungewöhnlich, fand Victoria Rayo.

Ihr Freund starb während der Operation. Unmittelbar nach dem Begräbnis holte die Schwester heimlich das Testament aus dem Haus und brachte es zum Bezirksgericht, wo es denn auch sofort für ungültig und die Schwester zur Universalerbin erklärt worden war. Gegen diese Entscheidung erhob Steins Besucherin Klage. Sie sprach den Verdacht aus, die Schwester selber habe das Testament verfaßt und mit einer hingekrakelten Unterschrift versehen. So weit hatte Victoria Rayo ihren Fall erläutert, als plötzlich von draußen, aus dem Sekretariat der Kanzlei, das Geschrei mehrerer Mädchen und das Toben einer Männerstimme durch die gepolsterte Bürotür drangen. Dieses Büro war sehr groß, alte Möbel standen darin, die schweren Vorhänge der Fenster, die auf den Kohlmarkt hinausgingen, waren geschlossen, elektrisches Licht brannte und ließ die silbergraue, mannshohe Tür des Tresors, der hinter dem Schreibtisch des Dr. Stein in die Mauer eingelassen war, mild schimmern, das verchromte große Rad der Panzerplatte aufleuchten.

»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein. Ich muß sehen, was da los ist … Es dauert nur einen Moment …« Stein eilte aus dem Büro und schloß die Doppeltür hinter sich. Im Sekretariat, in dem vier Mädchen arbeiteten, wütete ein riesiger Betrunkener. Er jagte hinter den kreischenden Sekretärinnen her, fegte Akten und Papiere von Tischen, hob und zertrümmerte einen Stuhl und warf sich mit einem heiseren Aufschrei auf Stein, als er dessen ansichtig wurde.

»Du Schwein, du hast mir mein Geld gestohlen!« brüllte er.

Stein, überrumpelt durch die plötzliche Attacke, stürzte. Der Betrunkene, der nach Schnaps stank, als wären seine Kleider mit Fusel getränkt, fiel über ihn und versuchte, Stein zu schlagen und zu würgen. Dabei fluchte und brüllte er unentwegt weiter. Sein übler Atem traf des Anwalts Gesicht. Aus einer anderen Tür kam der Kompagnon Weber. Die Mädchen schrien laut um Hilfe. Eines von ihnen versuchte, die Polizei zu alarmieren. Mit einem Anlauf stürzte der jüngere Weber sich auf den Betrunkenen, der Riesenkräfte entwickelte. Nun rollten die drei Männer auf dem Boden umher. Der Telefonapparat, von dem aus das Mädchen die Funkstreife rufen wollte, krachte zu Boden und brach entzwei. Hausbewohner kamen herbeigeeilt und versuchten, ungeschickt und einander behindernd, den Anwälten zu helfen. Das Chaos war vollkommen …

Währenddessen hatte die elegante junge Dame, die sich Victoria Rayo nannte, eine Kamera mit aufgestecktem Blitzlichtwürfel aus der Handtasche genommen. Ruhig und schnell begann sie das Büro und den Tresor zu fotografieren, indessen von draußen Kampfeslärm, das Fluchen der Männer und das Kreischen der Mädchen zu ihr schollen.

Als der erste Blitzlichtwürfel nach vier Aufnahmen verbraucht war, steckte ihn die Dame in eine Kostümtasche, der sie einen neuen entnahm. Sie ging jetzt dicht an die Tresortür heran und fotografierte sie von allen Seiten, insbesondere den kegelstumpfförmigen Einstellknopf über dem großen Chromrad und den Kreis aus Zahlen und feinen Strichen, welcher jenen Konus umgab, sowie das Schild der Herstellerfirma, das sich, nahe dem Boden, in der unteren linken Ecke der Tresorwand befand und Angaben über Herstellungsjahr, Typenbezeichnung, Seriennummer und ähnliches eingestanzt trug.

Draußen wurde es plötzlich ruhiger.

Victoria Rayo erhob sich ohne Eile, nahm wieder Platz, steckte die Kamera ein, entzündete sich noch eine Zigarette, damit man den Geruch der abgebrannten Blitzlichter nicht wahrnehmen konnte, und kreuzte die schönen Beine.

Im Sekretariat hatten sich Weber und Stein erhoben. Der betrunkene Riese war ihnen plötzlich entwischt und, indem er sich einen Weg durch die Menge der Gaffer schlug, blitzschnell aus der Eingangstür der Kanzlei gestürzt.

»Wie ist der Kerl hereingekommen?« fragte Stein, das Haar glättend und seine Krawatte hochziehend.

»Einfach so. Wie er jetzt raus ist«, sagte eines der verstörten Mädchen.

»Tür aufgerissen und auf uns los! Der eine Apparat ist hin. Aber wir haben noch den zweiten. Sollen wir nicht doch die Polizei …«

»Das hättet ihr früher tun müssen!« rief Dr. Stein wütend. »Jetzt erwischen sie den Burschen nie mehr. Wieso konnte er denn überhaupt in den Vorraum?«

»Es hat geklingelt. Da habe ich auf den Knopf für den elektrischen Türöffner gedrückt – ganz automatisch. Das mache ich doch hundertmal am Tag«, sagte ein anderes Mädchen. Stein sah sie brütend an, dann nickte er. »So was kommt eben einmal vor«, sagte er und ging in sein Büro zurück, wo er sich bei Victoria Rayo entschuldigte und erklärte, was vorgefallen sei.

»Das ist bisher noch nie passiert. Kein Grund zur Aufregung, gnädiges Fräulein. Schon wieder alles in Ordnung«, sagte Stein. »Tja, Ihr Fall … Ich möchte keine falschen Hoffnungen erwecken. Groß sind die Chancen nicht! Aber es gibt noch verschiedene Möglichkeiten, die doch Erfolg versprechen, wenn …«

»Ja, wenn?«

»Wenn ich mit dem Bezirksgericht in Innsbruck korrespondiert habe. Eventuell muß ich einen Kollegen einschalten. Doch ich warne Sie, gnädiges Fräulein: Solche Sachen dauern lange.«

»Das weiß ich. Aber Klaus hat mir doch sein Ehrenwort gegeben, daß ich …« Victoria Rayo begann zu schluchzen.

»Beruhigen Sie sich, bitte! Es ist noch gar nichts entschieden. Schlimmstenfalls kann man versuchen, einen Vergleich mit der Schwester zu schließen. Aber das alles wird seine Zeit dauern, ich sage es noch einmal … Wir wollen jetzt nur ein ganz kurzes Protokoll aufnehmen. Wo kann ich Sie in der nächsten Zeit erreichen?«

»Ich muß nach Innsbruck, meine Sachen aus der Villa holen. Ich will nach Wien zurück. In fünf, sechs Tagen bin ich gewiß wieder hier …«

»Vorher werde ich kaum etwas erreicht haben. Das Wochenende steht bevor.«

»Wann immer Sie mich brauchen, ich komme sofort«, sagte die junge Dame. Sie hatte nicht die geringste Absicht, noch einmal diese Kanzlei aufzusuchen.

Heute abend, um 23 Uhr 20, bin ich schon wieder in Graz, dachte die Frau, die sich Victoria Rayo nannte. Diese Kamera ist wunderbar, sie hat noch nie versagt. Mercier wird zufrieden sein.

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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