51
Da stand der Bär mit dem Bücherkorb in den Vorderpfoten. Der Korb war leer. Nora blickte sich um, auf den Krücken balancierend. Licht brannte wie einst in den von der hohen Decke herabhängenden Milchglaskugeln. Die Hälfte der Regale war leer. Nora erblickte nur wenige neue Bücher, die meisten waren antiquarisch. Aus dem seitlichen Eingang zu den hinteren Lagerräumen, an den Nora sich genau erinnerte, trat, schäbig gekleidet, abgemagert und noch schwächlicher geworden, den Kopf schief gelegt, die linke Schulter hochgezogen, Martin Landau. Er sprach so leise, und er war wieder so schreckhaft, wie Nora Hill ihn von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte.
»Guten Tag, gnädige Frau …«
»Guten Tag, Herr Landau. Erkennen Sie mich nicht?«
»Fräulein Hill!« Landau griff sich an das Herz. »Mein Gott, wie freue ich mich! Wir haben schon geglaubt, es ist Ihnen etwas passiert …«
»Ein wenig ist mir passiert.«
»Ja, das sehe ich. Furchtbar. Wie …« Er brach ab.
»Ein Unfall«, sagte Nora schnell. »Sonst geht es mir ausgezeichnet.« Sie hielt ihm die Hand hin, die er schüttelte. Seine Hand war eiskalt. »Und wie geht es Ihnen?«
»Oh, danke. Wir haben überlebt, nicht wahr? Immerhin … die Hauptsache. Wir dürfen nicht klagen. Wenn es erst wieder genug Bücher gibt …«
»Wo ist Frau Steinfeld?«
Martin Landau sah zur Seite.
»Im Teekammerl. Schreibt einen Brief, ich habe gerade diktiert. Ich werde sie sofort holen …«
»Nein, ich möchte zu ihr gehen«, sagte Nora. »Ich darf doch?«
»Aber natürlich … Ich dachte nur … immerhin …« Sein Blick glitt wieder zu den Krücken.
»Schauen Sie, das funktioniert schon ausgezeichnet mit ihnen!« Nora Hill schwang schnell über die verzogenen Bohlen des Bodens. Er sah ihr nach, bleich, verhungert und ängstlich.
»Mein Gott«, murmelte er, »mein Gott …«
Nora Hill passierte den schmalen Gang, in dem während des Krieges antiquarische Kriminalromane gestanden hatten. Jetzt waren die Regale leer, voll Staub und Spinnweben. Aus dem Teekammerl drang der Schein der grünbeschirmten Lampe.
»Frau Steinfeld!« rief Nora.
»Ja«, sagte eine klanglose, müde Stimme.
Im nächsten Moment erreichte Nora das Teekammerl und sah Valerie, die vor dem Schreibtisch saß und sich umgedreht hatte. Sie trug einen Verkäuferinnenmantel – wie damals, dachte Nora, wie damals –, und auch sie war blaß gleich Landau und machte einen sehr gealterten Eindruck. Das blonde Haar hatte sie hochgekämmt. Es leuchtete nicht mehr. Die einst so strahlenden blauen Augen waren glanzlos geworden.
»Ich bin Nora Hill, Frau Steinfeld!«
»Natürlich, Fräulein Hill. Ich habe Sie gleich erkannt. Wie schön, daß Sie uns einmal besuchen. Bitte, nehmen Sie Platz.« Valerie hatte sich erhoben. Auch ihre Hand war eiskalt, bemerkte Nora. Vorsichtig, aber schnell ließ sie sich in den defekten Schaukelstuhl gleiten. Erst als sie saß, nahm auch Valerie wieder Platz. Ihr Blick war nicht allein stumpf, er war seltsam starr und beständig leicht über die rechte Schulter Noras gerichtet. Die mageren Hände verschränkte Valerie im Schoß. Sie lächelte. Wie eine Blinde wirkt sie, dachte Nora plötzlich, ja, wie eine Blinde.
Valerie fragte ernst: »Ist das bei einem Luftangriff passiert?«
»Nein, bei einer anderen Gelegenheit.«
»Schrecklich.«
»Es gibt viel Schlimmeres«, sagte Nora, sich umsehend. Alles war noch genauso, wie sie es in Erinnerung hatte. Der rostige Gasrechaud. Das Spülbecken mit dem verfärbten, abgesplitterten Emaille. Das angeschlagene Geschirr. Der halbblinde Spiegel. Die alte Remington, in der ein Bogen schlechtes Papier steckte. Das alte Sofa. Der große Radioapparat. Die vielen Talismane auf dem vollgeräumten Schreibtisch.
Nora griff in ihre Manteltasche.
»Ich bringe Ihnen etwas mit, Frau Steinfeld! Sie werden es sicherlich schon vermißt haben!«
Nora legte das kleine Reh aus Blei auf den Schreibtisch. Valerie betrachtete es ohne Ausdruck. Sie sagte kein Wort.
Es irritierte Nora, daß Valerie nur sprach, wenn man sie etwas fragte. »Und Ihnen?« fragte sie. »Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Es war eine schwere Zeit«, sagte Valerie mit jener modulationslosen Stimme. »Nun ist sie vorüber …« Die Daumen der im Schoß verschränkten Hände bewegten sich umeinander.
»Der Prozeß! Ihr Junge! Was ist mit ihm? Wir haben uns so lange nicht gesehen, Frau Steinfeld! Nun reden Sie doch!«
Valerie antwortete leise: »Heinz ist nicht mehr da.«
Nora erschrak.
»Ist er …«
»Nein, er ist nicht tot, Fräulein Hill«, antwortete Valerie, die aussah und dasaß und redete wie eine Wachsfigur mit eingebauter Sprechwalze. »Er lebt. In Los Angeles.«
»Wie kommt er nach Amerika?«
»Er hat eine Einladung erhalten, dort zu studieren. Sie erinnern sich doch, daß er Chemiker werden wollte, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Wann ist er …«
»Schon vor einem Jahr hat er mich verlassen. Wir hatten nur noch Streit, wissen Sie.« Valerie sah Nora während des ganzen Gesprächs kein einziges Mal direkt an, sie blickte immer an ihr vorbei. Und die Daumen der Finger drehten sich unablässig.
»Streit? Weshalb?«
»Ich bin schuld. Ich habe ihn zu streng behandelt. Dieser Prozeß hat mich so hart gemacht. Ich bin nicht mehr die Frau, die Sie in Erinnerung haben. Heinz hielt es nicht mehr aus bei mir. Ein guter Junge. Ich habe Fehler gemacht, schwere Fehler. Ich sehe es ein. Es hat mich natürlich trotzdem sehr getroffen, daß mein Mann sich hat scheiden lassen.«
»Ihr Mann hat …«
»Ja, Fräulein Hill. Gleich nach Kriegsende. Er ist inzwischen längst wieder verheiratet – in London. Eine junge Frau … jünger als ich. Er hat sie während des Krieges kennengelernt. Es geht ihm gut. Manchmal schreibt er mir. Ich darf ihm nicht böse sein. Eine so lange Trennung, nicht wahr?«
»Aber …«
»Doch, doch. Die Zeit! Der Krieg hätte nicht so lange dauern dürfen. Sie haben ja auch nicht den Mann geheiratet, den Sie liebten.«
»Woher wissen Sie …«
»Wären Sie sonst hier? Er hat Sie verlassen, stimmt’s?«
Nora Hill nickte.
»Die Männer verlassen die Frauen. Die Frauen verlassen die Männer. Einer verläßt immer den andern. Früher oder später.«
»Großer Gott, Frau Steinfeld, das ist … das ist …«
»Ja, bitte?«
»Nach allem, was Sie mitgemacht haben – für seinen Sohn, auch für ihn! Und da läßt er sich scheiden!«
»Wenn er doch eine andere liebt«, sagte Valerie. Sie wandte plötzlich den Kopf, sah das kleine Reh an und nahm das Stückchen Blei in die Hand. Nachdem sie es kurz betrachtet hatte, legte sie es mit einem irren Lächeln wieder fort und verschränkte die Finger im Schoß. »Paul weiß bestimmt überhaupt nicht mehr, wie ich aussehe.«
»Aber der Prozeß! Wie kann Ihr Sohn Sie verlassen, wie kann Ihr Mann sich scheiden lassen nach einem solchen Prozeß?« rief Nora.
Schneller drehten sich die Daumen Valeries.
»Der Prozeß«, sagte sie. »Der wurde nie zu Ende geführt, der lief bei Kriegsende noch … Jetzt ist das ja alles vorbei und unwichtig und uninteressant … Wollen Sie eine Tasse Tee?«
»Wirklich, Frau Steinfeld …«
»Nein, nein!« Valerie sprang auf. Sie öffnete ein Wandschränkchen. »Vom Schwarzen Markt! Echter russischer! Wird Ihnen schmecken, Fräulein Hill. Zucker haben wir auch wieder, richtigen, nicht diesen widerlichen Süßstoff. Es ist doch Frieden, nicht?«
»Wie bitte?«
Valerie drehte sich um. Jetzt sah sie Nora zum erstenmal an. In ihren Augen stand ein Ausdruck von panischer Furcht. Sie wiederholte bebend: »Frieden ist jetzt. Das stimmt doch. Nicht wahr, das stimmt doch. Oder nicht?«