22
»… bis Herr Aranda zurückkommt. Niemand, nur er darf ihn öffnen, sagte ich«, berichtete der dicke Hofrat, an seiner Virginier ziehend. »Na, ich blieb hier. Lange genug haben Sie mich warten lassen.«
Manuel fragte aufgeregt: »Wo ist dieser Koffer?«
Mit einer für seine Leibesfülle erstaunlichen Schnelligkeit und Grazie bückte sich der Hofrat und hob hinter dem Schreibtisch einen flachen, kleinen Krokodillederkoffer hervor.
»Hier. Ich habe ihn nicht aus den Augen gelassen.«
Manuel sprang auf.
»Was ist darin?«
»Das werden wir bald feststellen.«
»Was heißt bald? Warum nicht sofort?«
»Lassen Sie mich zu Ende erzählen und … und noch etwas kontrollieren, Herr Aranda. Tun Sie, worum ich Sie bitte. Ich habe Gründe. Ja?«
Manuel hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
»Danke«, sagte Groll. »Nachdem Lavoisier und der Page weg waren, sah ich mich in Ihrem Appartement um. Später rief ich noch drei meiner Männer her. Sie parkten vor dem ›Ritz‹. Ich wollte, daß alle, die das Haus bewachen, sie auch sahen. Ich wollte, daß nicht noch mehr passierte, bevor Sie zurückkamen. Die Männer sind im Hotel. Wir haben die ganze Tat rekonstruiert. Der Page – Karl Weigl heißt er übrigens, ein Wiener – und Lavoisier sagen kein Wort, wie ich erwartet habe. Weigl heult aber bereits. Der wird heute noch speiben.«
»Was wird er?« fragte Manuel.
Groll grinste. »Auspacken. Spucken. Sagen, was er weiß. Bei uns heißt das Speiben. Verzeihen Sie den Fachausdruck. Leider wird er nicht sehr viel zu speiben haben. Vielleicht nennt er uns seinen Verbindungsmann zur französischen Zentrale.« Groll seufzte. »Den kennen wir schon seit Jahren.«
Sie waren nun allein in dem schönen Büro, das blauer Zigarrendunst erfüllte. Graf Romath hatte sich hustend entschuldigt. Groll stand vor dem antiken Schreibtisch und starrte auf das schmale, hohe Kupferkännchen mit den Blumen, die an Orchideen erinnerten. Weiß, bräunlich und mit goldgelben Flecken bedeckt waren ihre Blüten.
»Was ist jetzt los?« fragte Manuel, irritierter noch als zuvor. »Bitte, Herr Groll! Woran denken Sie?«
»An diese Inka-Lilie hier.«
»Was?«
»Das ist eine Inka-Lilie«, erklärte der Hofrat, in die Betrachtung der Blüten versunken. Er neigte sich vor. »Eine Alstroemeria aurantiaca. Wohl die Varietät ›aurea‹. Die soll dieses Goldgelb haben.«
»Herr Hofrat!«
»Ich bin ein Idiot«, sagte Groll. »Dieses helle Gold. Und nun sehe ich es vor mir …«
»Wovon sprechen Sie?«
»Ich habe so meine Ticks, wissen Sie. Farben, da bin ich ganz verrückt! Ich überlegte die ganze Zeit, wo er ihn versteckt hat. Fragen konnte ich ja nicht gut, wie? Also habe ich den Grafen mit dem Rauch meiner Virginier vergrault. Es war gedankenlos von ihm, gerade diese Inka-Lilien hier hinzustellen, sonst nichts. Aber ich, mit meinem Farbenfimmel … Jetzt wollen wir einmal sehen …« Groll ging zu der Kopie des ›Maskensoupers‹, die an der Wand hing und deren beherrschende Farbe ein geisterhaftes Gold, eine unwirkliche, leuchtende Helle war. Manuel sah ihm verständnislos zu. Groll klopfte, das Ohr an das Holz legend, mit einem Knöchel seiner Hand den Rahmen ab.
»Hm«, machte er. »Hm …« Er klopfte weiter. »Na also«, sagte er plötzlich. Mit beiden Händen begann er die Unterleiste des Rahmens abzutasten. Bald hatte er gefunden, was er suchte. Er drückte auf die verborgene Feder so lange, bis sich das genau eingepaßte Stück Rahmen senkte und dahinter, in einer kleinen Höhle, das Metallpäckchen sichtbar wurde, welches dort lag. Groll nahm es heraus und nickte zufrieden.
»Was ist das?«
»Ein Sender, Herr Aranda. Es mußte einfach einer hier sein.«
»Wieso?«
»Irgendwie mußte der Graf doch bekanntgeben, daß Sie um vierzehn Uhr das Haus verlassen würden. Telefon ist da ausgeschlossen. Viel zu riskant. Telefone werden abgehört.« Groll seufzte. »Hat keinen Sinn, daß ich das Ding in Betrieb nehme. Ich kenne die Rufzeichen nicht. Es wird sich niemand melden.«
»Sie meinen … Das bedeutet, daß auch der Graf …«
»Natürlich. Er wußte von Lavoisier. Er wußte von allem. Das erklärt seinen Streß.«
»Seinen was?«
»Nichts. Über ihn also wurde mein Bekannter verständigt, und der verständigte mich.«
»Wer ist dieser Bekannte?« fragte Manuel. Der Hofrat hatte vor Romath mit keinem Wort erwähnt, daß sein Informant eine Frau war.
»Jemand, der ein … riskantes Geschäft betreibt. Sehr einträglich. Zu einträglich. Unter anderen Umständen säße er längst im Gefängnis. Aber wir sind in Wien. Wir haben uns arrangiert. Er gibt mir Informationen, und ich lasse ihn in Ruhe.«
»Dann arbeitet der Graf auch für die Amerikaner?«
»Für die Amerikaner und für die Russen. Interessant, nicht? Sie waren doch gewiß der Meinung, daß amerikanische und russische Geheimdienste nur gegeneinander arbeiten.«
»Ja …«
»Ein großer Irrtum. Aber das weiß man wahrscheinlich auch nur aus langjähriger Praxis in Wien. Herr Aranda«, sagte der Hofrat, das Metallpäckchen wieder zurücklegend und das Versteck schließend, »wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, bleiben Sie im ›Ritz‹, und erfüllen Sie den Wunsch des Grafen nach Diskretion. Hier sind Sie immer noch am sichersten aufgehoben. Hier haben Sie Amerikaner und Russen auf Ihrer Seite – wenn wir es geschickt anfangen.«
»Was heißt: geschickt anfangen?«
»Das erkläre ich Ihnen doch lieber woanders«, sagte Groll. »Ich weiß nicht, ob es hier Mikrophone gibt. Und so sehr sind Amerikaner und Russen auch nicht auf Ihrer Seite.« Er nahm das schwarze Köfferchen. »Kommen Sie mit.«