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Drei rostrote Eichkätzchen mit dunklen Schwänzen. Zwei graubraune. Und zwei schwarze. Sie saßen auf einem freigeschaufelten Weg des Türkenschanzparks, am Rande eines der kleinen, zugefrorenen Seen, und sie knabberten Haselnüsse, die sie zwischen ihren winzigen Pfoten hielten. Aufrecht saßen sie da, die dichtbehaarten Schwänze elegant aufgestellt, ganz zahm, ganz nahe vor Irene und Manuel, die sie fütterten. Sie hatten die Nüsse in kleinen Säckchen aus einem der Automaten im Park gezogen. Es war Samstag, der 25. Januar, gegen halb drei Uhr nachmittag.
Manuel hatte den Vormittag bei dem Hofrat Groll verbracht und ihm von seinem Gespräch mit Nora Hill in der Nacht zuvor erzählt. Sie war nicht in der Lage gewesen zu sagen, wie der Prozeß mit dem vorgeblichen zweiten, verstorbenen Kindsvater weitergegangen war, und hatte ihre Erzählungen deshalb hier wieder einmal unterbrechen müssen …
»Aber der Anwalt weiß sicher Bescheid, lieber Freund.«
»Ich bin mit ihm verabredet, morgen nachmittag.«
»Sehen Sie. Und wenn Sie Bescheid wissen, kommen Sie wieder zu mir …« So war das Gespräch mit Nora beendet worden.
»Eines noch«, hatte Manuel dann später zu Groll gesagt.
»Ja?«
»Die Giftkapseln … Frau Hill hat es mir erzählt: Flemming gab sie ihr, als sie ihn darum bat, und sie gab sie Frau Steinfeld. Die bewahrte sie auf. Sechsundzwanzig Jahre lang bewahrte sie die Zyankalikapseln auf! Bis in dieses Jahr, in diesen Monat, bis zum neunten Januar … Ja, Herr Hofrat, das Gift, mit dem Frau Steinfeld meinen Vater und sich selber tötete, stammte von Flemming.«
»Also wäre auch das endlich geklärt«, meinte der Hofrat, am Samstagvormittag, in seinem Büro. Mit einem Finger umfuhr der schwere Mann das silbrig-grüne Ginkgo-Blatt, das unter Glas auf seinem Schreibtisch lag. Die Fingerkuppe glitt vom Stiel aufwärts den ganzen Blattumriß entlang und wieder zum Stiel zurück.
»Aber warum hat sich Frau Steinfeld all die Jahre hindurch geweigert, das Gift wegzuwerfen? Warum hob sie es auf? Für meinen Vater? Herr Hofrat!«
»Das wissen wir nicht«, sagte Groll.
»Das wissen wir noch nicht! Ich finde es heraus! Ich finde alles heraus, wie Sie sehen, Herr Hofrat! Auch das Letzte …«
»Sicherlich«, hatte Groll, das Blatt umfahrend, geantwortet.
Die Möven-Apotheke schloß am frühen Samstagnachmittag. Manuel hatte Irene zu einem Mittagessen im ›Ritz‹ abgeholt – schon um zwölf Uhr –, danach waren sie hier heraus, zu dem großen Park gefahren und hatten den Wagen in der Gregor-Mendel-Straße stehen lassen.
Sie machten einen weiten Spaziergang. Es war sehr kalt an diesem Tag, windstill, und es schneite nicht. Irene trug ihren Seehundmantel und die Seehundstiefel, Manuel seinen Kamelhaarmantel und die Pelzmütze. Er hatte auch Irene alles erzählt, beim Essen, während der Fahrten. Im Park gingen sie schweigend nebeneinander. Und weit hinter ihnen schritten zwei Männer, die Hände in den Taschen, und blieben stehen, wenn die beiden stehenblieben, und gingen weiter, wenn die beiden weitergingen. Heute bewachten Franzosen Manuel Aranda …
Bei dem kleinen See hatte Irene dann die Eichkätzchen erblickt. Zuerst waren zwei der possierlichen Tierchen über die weiten Schneeflächen der Wiesen gehüpft gekommen, dann drei, nun waren es sieben. Sie knabberten um die Wette.
Manuel sah Irene an, während er eine neue Handvoll Haselnüsse auf den Weg warf.
»Woran denken Sie?«
»An den Jungen«, sagte sie.
An ihren Bruder, überlegte er. An ihren Bruder, von dem sie, wenn ich es verhindern kann, niemals wissen wird, daß es ihr Bruder war. Wie seltsam, daß sie nach allem, was ich erzählt habe, nun über ihn nachsinnt. Seltsam?
»Und was meinen Sie?« fragte er.
»Daß er ein schreckliches Schicksal hatte«, sagte Irene.
»Schreckliches Schicksal?« wiederholte er überrascht. »Wenn hier jemand zu bemitleiden ist, dann, finde ich, die Mutter! Sie hat am meisten gelitten! Bedenken Sie, wie weh ihr das Verhalten des Jungen getan haben muß, als er so mit ihr redete. Man könnte direkt fragen: War ein solcher Mensch das alles wert – das Leid, die Lügen, die Aufregungen, die ganze Mühe?«
»Nein, so kann man nicht fragen!« sagte Irene heftig.
»Und sein Verhalten gegen Bianca? Und was er damals mit diesem geflohenen Russen tun wollte, bloß weil er sich schon so sehr als ›deutscher Mensch‹ fühlte?«
»Das eben nenne ich ein schreckliches Schicksal.« Irene warf Nüsse vor die Eichhörnchen, die es nicht im mindesten störte, daß die beiden Menschen sich unterhielten.
»Schrecklich – wieso?«
»Die Seele, der Charakter dieses Jungen wurden doch verbogen, alle seine Gefühle waren wirr und pervertiert zuletzt … Er wollte unbedingt so sein wie die anderen, wie die ›guten‹ Deutschen, ja, die ›anständigen‹ Deutschen, wie die …«
»Unbedingt dabeisein wollte er bei dem Establishment, das genauso unsinnig war wie alle anderen auch«, sagte er zornig, während er sofort dachte: Ach, Irene ist seine Schwester! Die Schwester verteidigt den Bruder. Ohne eine Ahnung zu haben. Automatisch nimmt sie seine Partei … »Ja, bei dem Establishment der Arier dabeisein!« sagte Irene. »Was, glauben Sie, haben die Nazis mit dem Idealismus, dem Glauben, dem Mut, der Ehrlichkeit dieser Halbwüchsigen angefangen? Wer die Jugend hat, hat die Zukunft. Das war ihre Parole. Das ist die Parole aller Diktaturen! So sein dürfen wie das Ideal, das man ihnen vorzeichnete – das wollten die jungen Leute damals. Was verlangen Sie von einem Siebzehnjährigen, den man ausgestoßen, verfemt, geächtet hat? Kritische Vernunft? Überlegenheit? Widerstand gegen das Regime und Liebe zum Vater, der ihm in seinen Augen alles Unglück beschert hat, das er zu erleiden hatte?«
»Aber …«, begann Manuel, doch sie unterbrach ihn: »Warten Sie! Ich sage, daß ich Heinz verstehe! Er handelte so, wie er unter den Umständen handeln mußte! Wissen Sie, daß es unzählige Fälle gab, in denen Kinder ihre Eltern angezeigt haben, wenn sie zum Beispiel London hörten oder über Hitler schimpften – nur weil der verehrte Lehrer, die verehrte Lehrerin ihnen gesagt hatten, sie müßten wachsam sein und jeden anzeigen, der gegen den Staat ist? Wissen Sie, was der Faschismus in den Seelen der besten und wertvollsten jungen Menschen angerichtet hat? Was sie dann taten – aus Hingabe an eine geliebte, grauenvoll böse Sache?«
Ihr Bruder, dachte Manuel. Sie verteidigt ihren Bruder, indem sie von einer ganzen Jugend spricht.
»Sie waren nicht hier! Sie haben so etwas nie erlebt! Sie können es sich nicht vorstellen!« rief Irene.
»Das hat man mir schon ein paarmal gesagt. Darf ich nun auch etwas sagen?«
»Sie haben keine Ahnung, wie … Was wollen Sie sagen?«
Er legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie dicht an sich.
»Ich liebe dich«, sagte Manuel Aranda so leise, als dürften es nicht einmal die Eichhörnchen hören.
Sie antwortete nicht, aber als er seine Lippen auf die ihren legte, öffneten sie sich, und ihr Mund wurde weich und wunderbar. Plötzlich umarmte auch sie ihn. Der Kuß dauerte.
Sieben Eichhörnchen saßen vor dem reglosen Menschenpaar und sahen es erstaunt an. Die kleinen Tiere hatten blanke Augen.