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Eine Kationen-Bestimmung nach dem Schwefelwasserstoffgang.
Das machte Heinz Steinfeld nun fast schon im Schlaf.
Die Flüssigkeit in der Eprouvette, die er von Professor Salzer erhalten hatte, enthielt gelöste Metallverbindungen. Heinz sollte feststellen, um welche Metalle es sich handelte.
Dieses Halbjahr endete im Februar 1943, heute war Mittwoch, der 21. Oktober 1942, ein sonniger und warmer Tag, und Heinz Steinfeld hatte bereits zwei Drittel aller vorgeschriebenen Übungen für das ganze Semester mit glänzendem Erfolg hinter sich gebracht.
Er nahm einen Kolben von einer Apparatur, verdünnte mit heißem Wasser, ließ es erkalten und filtrierte. Wenn er so weitermachte, war er morgen mit der Analyse fertig.
Halb zwei!
Langsam und scheinbar geistesabwesend schlenderte Heinz zu einem der großen Fenster und blickte in den milden Sonnenschein hinaus. Gegenüber, bei der Mädchenschule, war ein Fenster auf gleicher Höhe geöffnet. Bianca stand da. Sie trug die weiße Bluse mit dem Spitzenkragen, die er besonders liebte. Sein Herz schlug schneller, als er sah, wie das schöne Mädchen nun verstohlen und behutsam den Daumen der rechten Hand erdwärts drehte. Er tat dasselbe. Sie nickte einmal kurz, dann war sie verschwunden. Heinz wanderte an seinen mit Apparaturen und Gläsern vollgeräumten Arbeitsplatz zurück und stellte den Glaskolben mit dem Filtrat auf ein Asbestgitter über einem Dreifuß, unter dem ein Bunsenbrenner stand. Er zündete den Brenner nicht an.
»Ich gehe jetzt zum Leitner«, sagte er, an den Jungen gewendet, der neben ihm arbeitete. Ganz nahe gab es ein kleines Gasthaus, das für die Studenten der Chemie-Staatsschule einen täglichen Mittagstisch bereitete – gegen entsprechende Mengen von Lebensmittelmarken. Das Essen war eintönig und schlecht. Nicht sehr viele Schüler gingen ›zum Leitner‹. Heinz Steinfeld ging. Das Essen schmeckte ihm nicht, aber er war anspruchslos, und dann hatte er einen sehr wichtigen Grund für den angeblich täglichen Besuch des kleinen Lokals. So konnte er jederzeit um die Mittagsstunde oder danach das Laboratorium verlassen …