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»Ist das der Zettel des Herrn Friedjung?«
Manuel Aranda war aufgesprungen und hielt Daniel Steinfeld ein vergilbtes Papier hin, das er aus seiner Brieftasche geholt hatte, während Steinfeld erzählte. Manuel war schon seit langem sehr erregt. Irene hatte ihm Zeichen gemacht, den alten Mann, der bereits recht müde war, nicht zu unterbrechen. Jetzt konnte Manuel nicht länger warten. Der Bogen, den er Groll zusammen mit den Fotografien Penkovics gegeben hatte, damit der Hofrat das ganze Material im Tresor des Dr. Stein deponieren konnte, zitterte in seiner Hand. Manuel dachte: Wie gut, daß ich mir dieses Papier gestern von Stein schicken ließ. Ich hatte eine Ahnung, daß ich es brauchen würde, wenn Daniel Steinfeld eintraf.
Manuel sagte eindringlich: »Bitte! Ist das der Zettel?«
Steinfeld starrte den Bogen an.
»Ja«, sagte er heiser. »Ja, das ist er. Woher haben Sie ihn? Damals, nach meinem Gespräch mit Paul, muß ich den Zettel hier liegengelassen haben, ich erinnere mich jetzt daran, daß ich ihn nie mehr fand … Hat Valerie ihn aufgehoben?«
Manuels Worte überstürzten sich jetzt: »Aufgehoben, ja! Vielleicht hat sie Ihnen das Papier auch weggenommen, als sie hörte, daß Friedjung die Notizen geschrieben hatte …«
»Ich verstehe nicht …«
»… und als sie von ungefähr etwas über Krieg und chemische und bakteriologische Waffen hörte. Ihr Unterbewußtsein muß da gearbeitet haben … oder auch ihr Bewußtsein … Sie kannte Friedjung als Nazi … Er war ihr Freund gewesen … Nun war er ihr Feind … Vielleicht wollte sie sich schützen mit diesem Zettel vor Friedjung, wenn der einmal etwas gegen sie unternahm …«
»Das ist doch verrückt!« rief Steinfeld.
»Leider gar nicht, Daniel«, sagte Irene leise. »Denk an das, was inzwischen alles geschehen ist.«
Der alte Mann senkte den Kopf.
»Wir waren blind, wir Wissenschaftler. Wir sind es immer … auch heute noch. Wenn wir sehend werden, ist es zu spät. Ich konnte mir 1936 wirklich nicht vorstellen … unmöglich vorstellen … Ich überzeugte sogar Paul. Er hielt seinen Vortrag gegen unser Institut nicht … Das ist der Zettel von Friedjung, ja! Mein Gott, vor dreißig Jahren hat er das geschrieben … vor dreiunddreißig Jahren … Wo habt ihr es gefunden?« Irene sagte, wo.
»Und als Frau Steinfeld das erste Mal zu diesem Doktor Forster ging, da hatte sie den Zettel bei sich! Später, in der Buchhandlung, fiel er ihr aus der Kostümjacke. Martin Landau sah ihn auch.« Manuels Worte waren kaum zu verstehen, so schnell redete er. »Sie hat den Zettel zu Forster mitgenommen in der unsinnigen Annahme, eine Waffe gegen Friedjung zu besitzen, der ja nun zugeschlagen hatte. Bei Forster muß ihr aufgegangen sein, daß das keine Waffe war, nein, daß Friedjung, wenn er an dem Projekt noch arbeitete, und zwar für Kriegszwecke, das im Auftrag der Regierung tat! Darum zeigte sie Forster den Zettel auch nie … Aber Meerswald wird sie ihn gezeigt haben, da bin ich sicher!« Mit einem Ruck hatte Manuel das Foto aus der Brieftasche gerissen, auf dem sein Vater an Deck der kleinen Yacht zu sehen war, groß, leicht untersetzt, ganz in Weiß gekleidet, sonnengebräunt und mit einer Pfeife in der Hand. »Und dieser Mann da, Herr Steinfeld? Dieser Mann da – wer ist das?«
»Allmächtiger Gott im Himmel«, sagte der alte Mann mit bebender Stimme. »Das … das ist er … das ist mein ehemaliger Assistent Friedjung!«
Irene trat neben Manuel. Sie legte eine Hand auf seine Schulter. »Sind Sie sicher, Herr Steinfeld?«
»Ganz sicher … Älter … älter als zu meiner Zeit natürlich … aber diese Lippen, diese Nase, die Stirn, das Lachen … das ist Karl Friedjung, ich könnte es beschwören.«
»Es wäre nicht mehr nötig«, sagte Manuel, plötzlich mit leiser, beherrschter Stimme. »Der Zettel würde genügen. Diese Handschrift kenne ich nämlich.«
»Der Mann auf dem Foto – das ist Ihr Vater?« fragte Steinfeld. Plötzlich sprach auch er sehr leise.
»Das war mein Vater«, sagte Manuel. Danach setzte er sich. Irene sah ihn an. Lange Zeit war es still in dem großen Raum.
Dann sagte Steinfeld: »Also habe ich ihr Unrecht getan, der armen Valerie … Also hat sie doch recht gehabt mit all ihren Vermutungen und Hypothesen …«
»Karl Friedjung, so heißt mein Vater wirklich«, sagte Manuel mit der flachen Stimme, in der er nun sprach. »Ich bin der Sohn des Mannes, der Valerie Steinfeld einmal liebte und dann haßte. Und meine Mutter ist jene junge Frau, die 1945, eine Woche nach dem Luftangriff auf die Chemieschule, nachts aus ihrer Wohnung in der Siebensterngasse geholt wurde, zusammen mit einem kleinen Kind … und die dann mit Friedjung zusammen spurlos verschwand … Das kleine Kind, das war ich … Sie flüchteten nach Argentinien mit mir … Für Bonzen war das möglich … und er war doch ein wichtiger Mann, mein Vater! Die argentinischen Behörden ließen damals viele Leute wie ihn ins Land … Er bekam falsche Papiere für uns alle … Wir hießen Aranda … Ich war in Buenos Aires geboren … wie meine Eltern … So ist das also gewesen …«
Wieder folgte eine Stille.
Eine bedrückende Stille.
Dann sagte der alte Mann: »Aber Valerie hat nie erfahren, daß Ihr Vater und dieser Friedjung identisch waren. Sie hat nie erfahren, wo er lebte, wie er hieß, was aus ihm geworden war – bis zu dem Moment, in dem er in die Buchhandlung kam, um ein Werk mit Stichen von Wien zu kaufen … arglos, zufällig, vollkommen zufällig … Valerie hat nichts gewußt von Friedjung vorher! Nicht das Geringste! Nachdem Meerswald zum letztenmal bei mir war, flog er nach Südamerika. Er wurde ermordet – vielleicht weil er dem Geheimnis auf die Spur gekommen war. Er hat Valerie nie wiedergesehen …«
»Auf dem Tonband, das da von der Polizei aufgenommen wurde, sagte Valerie, daß sie ein Leben lang auf den Moment gewartet hat … daß der Mann sie nicht wiedererkannte … erinnerst du dich, Manuel?« fragte Irene.
»Ich erinnere mich«, sagte Manuel Aranda und griff nach der Hand, die auf seiner Schulter lag. »Wenn mein Vater nicht in diese Buchhandlung gegangen wäre, sondern in eine andere … in keine … wenn Frau Steinfeld gerade nicht dagewesen wäre an diesem Tag … mein Vater würde noch leben, nichts wäre geschehen …«
Daniel Steinfeld sagte: »Er ist aber in die Buchhandlung Landau gegangen und in keine andere. Und Valerie war nicht gerade fort, sie war da.«
Langsam mit dem Kopf nickend, sprach der alte, kranke Jude, der unterwegs war, gejagt, vertrieben, auf der Suche nach einer neuen Heimat:
»Man soll keinen Menschen verurteilen und keine Sache für unmöglich halten. Denn es gibt keinen Menschen, der nicht seine Zukunft hätte, und es gibt keine Sache, die nicht ihre Stunde bekäme …«