11
In der Stille, die folgte, füllte Roman Barry, ohne zu fragen, alle Gläser nach, und alle tranken schweigend. Erst nach einer langen Weile sagte Bianca leise: »Sie verstehen nicht, daß ich Roman, ausgerechnet ihn, dann geheiratet habe, nicht wahr?«
»Sie hatten gewiß Ihre Gründe«, meinte Manuel höflich.
»Viele Gründe, ja.« Bianca nickte. »Die Eltern tot, bei einem Luftangriff umgekommen, unser Haus war zerstört. Heinz war tot.«
»Was?« fragten Manuel und Irene gleichzeitig.
»Tot, ja. Auch bei einem Luftangriff umgekommen.«
»Bei einem Luftangriff?«
»Hat mir seine Mutter selbst gesagt. Im Februar oder März 1945 ist das passiert, ich weiß es nicht genau. Er war dienstverpflichtet als Hilfsarbeiter in einem Werk, das an der Donau lag. Dort fielen sehr viele Bomben …«
Wieder sahen Manuel und Irene sich an. Was hatte Valerie Steinfeld alles über ihren Jungen erzählt? Arbeit in Amerika? Tod in Kanada? Tod bei einem Luftangriff? Was war Wahrheit, was Lüge? Warum hatte sie überhaupt gelogen?
»Wann hat sie Ihnen das gesagt?«
»Dezember 45. Da kam ich nach Wien zurück. Ich wurde gleich nach dem Abitur in einen Rüstungsbetrieb gesteckt, wie wir alle damals, und der Betrieb wurde Mitte 44 verlagert – nach Oberösterreich. Ich war über ein Jahr lang von Wien fort. Roman wieder …«
»Mich zogen sie sofort nach dem Examen ein«, sagte der Maler und sah auf seine farbbeschmierten großen Hände. »Ich war doch eineinhalb Jahre älter als Heinz – einmal durchgefallen. Also machte ich noch den ganzen Schlamassel im Osten mit, bis zum Kampf um Berlin. Da erwischten mich die Russen. Aus der Gefangenschaft kam ich 1949 heim. Auch meine Eltern waren tot. Ich suchte Bianca und fand sie endlich. Sie lebte damals in einem Weekendhäuschen in Salmannsdorf, das ihrem Vater gehört hatte. Sie gab Sprachunterricht. Davon lebte sie. Ich hatte in der Gefangenschaft angefangen zu malen. Die Chemie hatte ich vergessen. An der Uni wäre ich nie angenommen worden, und als gewöhnlicher Betriebschemiker anderswo auch nicht. Ich hatte keine blasse Ahnung mehr. Und keine Lust. Und da …«
Bianca warf den Kopf zurück. »Und da heirateten wir dann, 1950. Roman war ein anderer Mensch geworden, ein ganz anderer.«
»Weiß Gott«, sagte der. »Ich hatte meine Lektion gelernt. Dieses verfluchte Pack! Diese Nazipest! Wenn ich heute einen solchen Drecksack treffe, gibt es jedesmal einen Skandal.«
»Und wenn er etwas getrunken hat, eine Prügelei«, sagte Bianca.
Der Maler sagte: »Sehen Sie, es wird mir nachhängen bis an mein Lebensende, daß ich mich damals so gegen Heinz benahm. Ich habe ihm das Studium unmöglich gemacht, ich …«
»Rede keinen Unsinn«, sagte Bianca schnell. »Friedjung hat es ihm unmöglich gemacht!«
»Ich, ich, ich habe Friedjung zu dem Gartenschuppen gebracht! Mit mir hat alles angefangen! Und darum bin ich schuld daran, daß Heinz ein so elendes Leben führen mußte. Aber wenigstens bin ich nicht schuld an seinem Tod. Für eine amerikanische Bombe kann ich doch nichts – wie?«
»Das fragt er immer und immer wieder«, sagte Bianca leise.
»Nicht wahr, so ist es doch?« Roman Barrys Stimme klang flehentlich. Manuel nickte.
»So ist es, natürlich«, sagte Irene. »Außerdem waren auch Sie noch ein halbes Kind damals. Ich kann das alles gut verstehen. Sogar Ihre Heirat, als Sie einander dann wiedertrafen … zwei Menschen, jeder allein, jeder verloren …«
»Und der Direktor der Anstalt?« fragte Manuel. »Dieser Friedjung? Was wurde aus dem?«
»Keine Ahnung. Angeblich türmte der, als die Russen kamen«, sagte Barry. »Hat man uns wenigstens erzählt.«
Manuel blickte erstaunt auf und fragte: »Wohin?«
»In den Westen natürlich. Muß ziemlich viel Butter auf dem Kopf gehabt haben. Aber was er dann tat …«
Manuel wurde aufgeregt.
»Würden Sie ihn wiedererkennen?«
»Heute? Nach so vielen Jahren? Ich weiß nicht …«
»Hier!« Manuel hatte seine Brieftasche gezogen und ihr eine Fotografie entnommen. »Sehen Sie sich das Bild an, bitte!«
»Wer ist das? Ihr Vater?«
»Ja. Bitte, betrachten Sie die Fotografie genau. Ist das Karl Friedjung?« Das Ehepaar Barry senkte die Köpfe über dem Farbfoto. Es zeigte einen großen, leicht untersetzten Mann, lachend, mit sonnengebräuntem Gesicht, ganz in Weiß gekleidet, auf dem Deck einer kleinen Yacht. Raphaelo Aranda hielt eine Pfeife in der Hand. Sein Haar war grau und gelichtet. Er winkte.
»Die Aufnahme wurde voriges Jahr gemacht«, sagte Manuel. In seinem Gesicht hatten sich hektische rote Flecken gebildet. »Bemerken Sie eine Ähnlichkeit? Ist er es? Könnte er es sein?«
»Ich habe Friedjung vor fünfundzwanzig Jahren zuletzt gesehen«, sagte Bianca hilflos. »Aber trotzdem: Nein, das ist er nicht!«
»Und Sie?« Manuel wandte sich an den Maler. »Sie waren in der Anstalt! Sie haben Friedjung viel öfter gesehen als Ihre Frau! Leider habe ich kein Foto von früher. Aber theoretisch könnte mein Vater Friedjung sein, es ginge aus mit den Zeiten. Wenn er bei Kriegsende nach Argentinien floh …«
»Wie alt sind Sie?« fragte der Maler.
»Sechsundzwanzig.«
»Also wurden Sie 1943 geboren. Falls Friedjung und dieser Mann identisch sind, dann müßten Sie ja noch hier geboren sein. Haben Sie keine Erinnerung?«
»Nicht die geringste. Und nach meinen Papieren wurde ich in Buenos Aires geboren – wie auch mein Vater und meine Mutter.«
»Es könnte Friedjung sein«, sagte Barry langsam. »Mit allen Vorbehalten. Fünfundzwanzig Jahre. Ein Foto. Wie sehr verändert sich ein Mensch in einem Vierteljahrhundert. Aber die Stirn … und die Nase … auch der Mund … er könnte es sein … könnte, könnte, könnte … doch er ist es unmöglich nach dem, was sie selber sagen.«
»Vielleicht sind alle Papiere, die er besaß, gefälscht?« Manuel hatte Mühe, zu sprechen. »Vielleicht …«
»Herr Aranda, bitte, regen Sie sich nicht so auf!«
»Wenn er es wirklich war – das alles ist phantastisch, ich weiß, ich weiß –, wenn er es wirklich war, dann hatte Frau Steinfeld doch einen guten Grund, ihn zu töten! Er hat ihren Jungen ins Unglück gestürzt! Er hat seine Aussichten, Chemiker zu werden, zerstört! Durch Friedjungs Schuld mußte Heinz als Rollenpendler arbeiten …«
»Auch in dieser Fabrik an der Donau!« Bianca nickte.
»Und dort kam er schließlich um! Dafür wird Frau Steinfeld auch Friedjung verantwortlich gemacht haben!« Manuel nahm das Foto, das Barry ihm reichte.
Irene fragte: »Wissen Sie, ob dieser Friedjung verheiratet war?«
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte der Maler.
»Ich auch nicht«, sagte Bianca. Irene sah, wie ihre Nervosität stieg und stieg.
»Verwandte?«
»Keine Ahnung.« Barry blies eine Wolke von Tabakrauch von sich. Irene berührte Manuels Arm. Mit dem feinen Gefühl einer Frau für das, was in einer anderen Frau vorgeht, hatte sie bemerkt, daß Biancas Nervosität sich einem Ausbruch näherte. Irene sagte: »Nun müssen wir aber gehen. Wir haben lange genug gestört.«
»Gestört? Ich bitte Sie! Bleiben Sie doch zum Essen! Lassen Sie uns noch weiter überlegen …« Barry brach ab, denn Irene war bereits aufgestanden, und auch Bianca hatte sich erhoben. »Tja, wenn Sie wirklich gehen wollen«, sagte der Maler. »Aber rufen Sie an, kommen Sie wieder, jederzeit. Falls Sie irgendeine Frage haben … falls wir Ihnen irgendwie helfen können …«
Er ging, an Manuels Seite, aus dem Zimmer. Die beiden Frauen hatten es schon verlassen und stiegen eine Treppe hinab, an deren Wänden Marionetten, chinesische Rollenbilder und Holzkästchen mit Hunderten von winzigen Krügen, Tassen und Gläsern, Murmeln und Talismanen hingen.
Bianca half Irene in den Breitschwanzpersianer, der über einem Schaukelpferd gelegen hatte. Dabei näherte sie ihren Mund einem Ohr Irenes und flüsterte hastig: »Ich muß Sie noch einmal sprechen … allein … ohne meinen Mann … Ich konnte vor ihm nicht die Wahrheit erzählen … Ja, ich habe gelogen … Es war alles ganz anders … Aber ich mußte Sie hierher bitten, damit er beruhigt ist … Sie hören von mir …«
»Wann?« flüsterte Irene.
Die Männer kamen die Treppe herab.
»Weiß noch nicht … kann schwer weg … rufe Sie an oder Herrn Aranda … Ich … ich liebe Heinz noch immer … Ich habe immer nur ihn geliebt …«
Die beiden Männer betraten die Garderobe.
Sofort lächelte Bianca Barry, ihren Gatten, wieder an – offen, fröhlich, voller Zuneigung und Herzlichkeit.