Kapitel 68
So viel Menschenkenntnis besaß selbst Donner, dass er das Lächeln der Polizeipräsidentin als aufgesetzt erkannte. Also lächelte er mit falscher Freundlichkeit zurück.
In einer Art Storchenhaltung hockte Anne auf dem Nachbarstuhl. Ein leicht abwesender Blick nach vorn und die Füße um die Stuhlbeine verdreht, saß sie da. Um den Finger wickelte sie eine ihrer Haarsträhnen. Zudem biss sie sich auf die Lippe, wodurch diese aufplatzte. Selbst fünf Tage nach den Ereignissen in der Todeszone – wie Anton Below das Jagdgrundstück bezeichnet hatte – kam sie immer wieder auf das Geschehen zu sprechen. Als gäbe es keine anderen Themen mehr.
Donner wusste, was in ihr vorging. Unmittelbar vor Annes Augen, als sie versucht hatte, die vierzehnjährige Emma zu beschützen, hatte Brandner dem Mädchen direkt in den Kopf geschossen. Dieses Bild würde sie niemals mehr vergessen können. Später hatte selbst Stark beim Anblick der Toten seinen Job verflucht.
Die Polizeipräsidentin erhob sich von ihrem Stuhl, schlich wie eine hungrige Löwin um den Schreibtisch und stemmte sich mit ihrem Hintern gegen die Tischkante, von wo sie Donner mit verschränkten Armen musterte. Gleich würde sie zubeißen!
»Damit ich das richtig verstehe«, sagte sie. »Dieser Russe soll all die Morde begangen haben?«
»So steht es im Abschlussbericht von Gabriel Rammler.«
»Lesen kann ich selber! Jetzt möchte ich die Fakten aus Ihren Mündern hören, Herr Donner und Frau Kolka.«
»Alles, was das BKA schreibt, stimmt zu einhundertzehn Prozent«, log Donner, wobei er versuchte, ernst zu bleiben. »Immerhin arbeiten dort nur Menschen allererster Güte.«
»Brandner und Brecht hatten also in illegale Geschäfte in Russland investiert und am Ende zerstritten sie sich mit ihrem Kontaktmann, diesem Igor, der neben Swarovski-Imitaten mit Waffen, Drogen, Menschen und diversen Dingen organisierter Kriminalität handelte, richtig?«
Donner bestätigte die Zusammenfassung mit einem Kopfnicken. Und weil Kolka das Sesselleder mit ihren Fingernägeln bearbeitete, stieß er sie an, woraufhin sie ebenfalls den Kopf bewegte.
»Aha«, sagte Andresen hörbar genervt. »Und der ganze Streit eskalierte in einem Blutbad, bei dem der Russe nicht nur Brecht und Brandner, sondern deren Familien verschwinden und umbringen ließ …«
»Lilly hat überlebt«, ergänzte Donner. »Dank der Rettungstat von Annegret erlitt das Kind nur einen Streifschuss am Hals.«
Andresen zwinkerte müde. »Ja, was für eine Großtat.« Sie ging um den Tisch und ließ sich in den Stuhl sinken. »Und was für ein Unfug …« Sie sprach mit der Fensterfront.
»Sie dürfen ruhig Scheiße sagen«, gestattete Donner. »Das ist Ihr Büro und wir können schweigen.«
»Scheiße!«, stieß Andresen auch prompt aus. Nach der kleinen menschlichen Entgleisung wurden ihre Gesichtszüge wieder fest. »Und dann kommt es in diesem Waldstück zu einer Schießerei, bei der Sie beide und dieser Schönling vom BKA anwesend sind. Nur Sie drei gegen vier Russen …«
»Annegret hat Henry Stark und Martin Kroll zuvor um Unterstützung gebeten«, wandte Donner ein. »Unterstützung, die verweigert wurde. Was sollten wir tun? Wir wollten Igor, den Nagel, festnehmen.«
»Ach, und dann erschießt sich dieser knallharte Killer auf einmal selbst, als Sie ihm gegenübertreten?«
»Sie wissen doch, wie das ist, wenn ich irgendwo auftauche: Sobald man mich sieht, machen die Leute sich in die Hose.«
Andresen winkte ab, zog ein Blatt Papier von einem Stapel und hielt es schräg vor sich. »Bei Ihrer Befragung klang das noch ganz anders.« Sie überflog ein paar Zeilen. »Laut Akte haben Sie behauptet, Sie hätten mit Felix Brandner gekämpft und er wäre der Mörder. Sie sagten, er habe Ihnen gegenüber gestanden, dass er seine Ehefrau, Polizeimeister Stefan Zornitz, den Obdachlosen, die Frau seines Geschäftspartners, Emma Brecht und die Polizeianwärterin Nina Richter umgebracht hat. Lediglich der Name Klemens Brecht taucht nirgends auf.« Sie ließ das Blatt sinken und donnerte mit der Faust auf den Tisch.
»Als ich das gesagt habe, stand ich unter Schock.«
Andresen lachte wenig amüsiert. »Den Tag, an dem man mir glaubhaft versichert, dass Sie unter Schock stehen, werde ich zu meinem persönlichen Feiertag erklären.«
Donner legte den Kopf schräg, hob eine Augenbraue und senkte die andere. »Frau Präsidentin, eine solche Äußerung aus Ihrem Munde. Ich bin enttäuscht …«
Andresens Dekolleté hob sich gewaltig, was wohl so viel bedeutete wie: Ich nehme Sie mir zur Brust, wie und wann ich will, ist das klar?
»Klar«, antwortete Donner auf sein eigenes Gedankenkonstrukt.
Die Präsidentin legte die Abschrift seiner Aussage zurück auf den Stapel, ließ die Luft hörbar ausströmen und wandte sich an Anne. »Haben Sie dazu eine Ergänzung zu machen?«
Anne schüttelte den Kopf, als hätte sie die Frage gar nicht verstanden. Kraftlos schob sie nach: »Was soll Felix Brandner auch für ein Motiv gehabt haben, so etwas zu tun?«
»Ja, was für ein Motiv sollte er gehabt haben …« Andresen legte einen Finger auf ihre Lippen. Nach ein paar Sekunden sprach sie weiter. »Da fällt mir ein: Sie waren es, Frau Kolka, die eine Schuheindruckspur am alten Kühlhaus gefunden hat. Wussten Sie, dass diese Felix Brandners Schuhprofil aus dem Krankenhaus zugeordnet werden konnte?«
Überrascht von dieser Neuigkeit vermied Donner es, Kolka anzusehen. Sie rutschte ihrerseits tiefer in den Sessel.
»Die kriminaltechnische Untersuchung hat eine einhundertprozentige Übereinstimmung ergeben, was innerhalb der Soko neue Fragen aufgeworfen hat. Fällt Ihnen dazu etwas ein?«
Donner und Kolka schwiegen.
»Wenigstens sind Sie sich beide einig …«
Bald fand ein zweites Schriftstück Andresens Aufmerksamkeit. Als sie danach griff, schaute sie noch weniger erfreut. »Während Herr Totners Sonderkommission die Geschehnisse aufarbeitet, gegen Anton Below ein internationaler Haftbefehl ausgestellt wurde und wir die Leichen von Brandner und Brecht suchen, rate ich Ihnen beiden, dringend Urlaub zu machen. Richtigen Urlaub, Herr Donner! Nach allem, was man so hört und sieht, haben Sie zwei wohl zueinander gefunden.«
»Wir sind nur Kollegen«, verbesserte Donner schnell.
»Ja, sind wir«, fügte Anne mit unüberhörbarer Enttäuschung an.
»Herr Donner! In Ihren Augen zähle ich vermutlich bereits zur Generation Krampfadergeschwader, aber ich bin keineswegs debil genug, um Ihnen auch nur ein einziges Wort von dem zu glauben, was Sie hier von sich gegeben haben.«
»Ich …«
»Lassen Sie mich ausreden, Sie Vollidiot! Wie es aussieht, kommen Sie erneut mit einem blauen Auge davon.«
Donner griff sich unwillkürlich an sein geschwollenes Auge, das vom Ringen mit den vier Russen herrührte.
»In meiner Hand halte ich ein Dankschreiben des Präsidenten des Bundeskriminalamtes – persönlich von ihm unterschrieben. Und ich kann mich nicht erinnern, je einen solchen Brief erhalten zu haben.«
Donner horchte auf. Selbst Anne machte große Augen, mit denen sie ihn erstaunt ansah.
Andresen räusperte sich und zitierte aus dem Text: »… bedanke ich mich im Namen des Bundeskriminalamtes bei Kriminalhauptkommissar Donner und Kriminaloberkommissarin Kolka für Ihre überragende Ermittlungsarbeit und die beispielhafte Zusammenarbeit mit unserem Kollegen Rammler. Blablabla …«
Einige Sekunden lang sagte keiner etwas – bis Donner einen Vorstoß machte: »Darf ich mir davon eine Kopie machen?«
»Nein!«
Enttäuscht lehnte Donner sich zurück.
»Sie dürfen gehen«, schob Andresen nach, während sie den Brief ganz tief unter unzähligen anderen Dokumenten verschwinden ließ. Und weil nur er aufstand, setzte sie mit frustriertem Tonfall nach: »Sie beide.«
Kurz bevor Donner das Zimmer verließ, sagte er: »Ich schätze Sie wirklich, Frau Andresen, und ich weiß um Ihre schwere Aufgabe, trotzdem denke ich, Sie sollten sich nicht zu sehr in diesen Fall hineinsteigern. Nehmen Sie den Abschlussbericht des BKA, wie er ist. Was geschehen ist, schmeckt mir genauso wenig. Ich wünschte, wir hätten mehr Menschen beschützen können. Es ist keine schöne Wahrheit, aber es ist eine akzeptable. Eine bessere kriegen Sie nicht.«
Zu zweit auf dem Gang der Polizeidirektion hielt Donner Anne fest. Aus übernächtigten Augen schaute sie zu ihm auf und schien darauf zu warten, dass er den Anfang machte.
»Das war der beschissenste vierzigste Geburtstag, den ich je erlebt habe.«
»Komisch, ich hatte immer das Gefühl, du hattest deinen Spaß.«
»Wollen wir nochmal von vorn beginnen?«
»Du meinst, ich soll das Chaos mit dir nochmal durchleben?« Sie seufzte. »Erik, ich weiß nicht … In den letzten Wochen ist einfach zu viel passiert.«
Er nahm seinen Mut zusammen und fasste sie mit beiden Händen an den Wangen. Dann streichelte er mit den Daumen über ihre Haut. »Ich kann nur versprechen, es diesmal besser zu machen, damit unsere Beziehung eine Chance hat.«
Sie wehrte sich nicht gegen die Berührung. Stattdessen legte sie den Kopf leicht schräg in seine Hände. Kraftlos sagte sie: »Wir wissen doch beide, dass man dir nicht trauen kann.«
»Wem kann man schon trauen außer seinem Friseur?« Damit zog er sie an sich und küsste sie. Er tat es nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil er es wollte.
Und sie erwiderte den Kuss verlangend.
Erst als jemand den Flur entlangkam, befreite sie ihre Lippen von seinen und beide liefen in die entgegengesetzte Richtung zum Hinterausgang.
»Schön, lass uns auf deinen Vierzigsten anstoßen«, lenkte sie ein. »Wir betrinken uns maßlos und vergessen die zurückliegenden Tage.«
»Hauptsache, du führst mich nicht dorthin, wo du mit diesem Rammler gefrühstückt hast.«
Sie begann zu schmunzeln, dann wurde sie ernst. »Weißt du, was mich am meisten bedrückt?«
Donner nickte unschlüssig. Mehr Aufmunterung hätte ihnen beiden gut getan. Auch bei ihm war etwas von den schrecklichen Ereignissen hängen geblieben. Überbleibsel, die er mit sich selbst ausmachte.
»Los, erzähl!«, forderte er Anne auf.
»Glaubst du, Lilly wird zurück ins Leben finden?«
Darüber wollte er jetzt überhaupt nicht nachdenken. Er steckte die Hände in die Manteltaschen, wie er es oft tat, wenn er Dinge von sich schob, und schaute hinauf zu den Wolken.
Hat irgendwer einen Rat?
Die Krähen, die wie jeden Tag über der Direktion kreisten, schienen ihn auszulachen.
»Das Kind ist traumatisiert, es wird ein langer Weg für die Kleine«, sagte er. »Aber ich denke, sie bekommt eine zweite Chance.«
»Wenn ich ihr nur helfen könnte. Ich meine, ich habe die letzten drei Tage bereits an Adoption gedacht.«
»Hey, hey, langsam! So unheimlich es sich anhört, sie ist eine reiche Erbin. Man wird sich um sie kümmern. Und du hast einen Sohn, der dich genauso braucht.«
Mann, bin ich gut! Vielleicht ist es das Vernünftigste, was ich je gesagt habe. Die Erstkontaktstelle ist vielleicht doch der richtige Posten für mich. Nein, auf keinen Fall! Denk nicht mal dran!
»Interessant!« Sie schüttelte den Kopf. »Hätte gar nicht gedacht, dass du zu solchen Sätzen fähig bist.« Und nach einem erneuten Seufzer wechselte sie das Thema. »Schade, dass Gabriel ohne Verabschiedung nach Wiesbaden zurückgereist ist. Hätte zu gerne gewusst, was er noch so alles mit seinen Händen anstellen kann.«
»Scheiße«, rutschte es ihm raus. Eine Beziehung, bei der der Partner an einen anderen dachte, konnte nur in einer Katastrophe enden.
Jemand hätte dem Rammler das Fell über die Ohren ziehen sollen.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu und streichelte ihm die Wange. »Komm schon, so habe ich das nicht gemeint. Soll ich dir beweisen, wie wichtig du mir bist?«
Er wartete.
Sie grinste. »Los, gib mir deine Hände.«