Kapitel 32

 

Damals (Sechs Jahre zuvor)

 

Zusammengetrieben in einer Reihe standen sie da. Ihre nackten Zehen gruben sich in den Schnee. Jegor Tarassow fror vor Angst. Vor unendlicher Angst um seine Familie. So sehr, dass er hoffte, der Boden unter seinen Sohlen würde anfangen zu brennen, um ihn und seine Angehörigen zu verzehren. Doch Eis und Schnee taten ihm den Gefallen nicht. Sie ließen ihn umso heftiger mit den Zähnen klappern.

Der Weiße Wolf, von dem die Legenden flüsterten, hatte die Männer geschickt. Sechs Russen und zwei Ausländer. Nicht nur dem Dialekt nach waren sie Deutsche. Sie lachten und sie tranken Wodka aus einer eisbeschlagenen Flasche. Das Abzeichen des Weißen Wolfs prangte an ihrer Brust.

S65.

S stand für Sieg. Die Zahl für das Jahr 1965.

Tarassow hatte versucht, sich schützend vor seine Lieben zu stellen, doch die Männer hatten ihn mit den Gewehrläufen in Haut und Rippen gestochen und ihn zurück an seinen Platz in der Reihe getrieben.

Man hatte seine Familie aus ihrer Hütte gezerrt und mit verbundenen Augen tief in die Wildnis von Oblast Wologda gefahren. Man hatte sie aus den Fahrzeugen geprügelt, ihnen die Augenbinden abgenommen und die Kleider mit Jagdmessern aufgeschnitten.

Ehefrau und Tochter hatten sie die Haare gestutzt, um sie zu demütigen. Einer der Russen hatte der Fünfzehnjährigen mit einer Klinge ihre Schambehaarung rasiert. Dabei hatte er gelacht und sie am Hals geleckt.

Tarassows neunjährigen Sohn hatten sie ein Jagdgewehr in die Hand gedrückt und ihn gezwungen, mit dem Lauf auf seine Mutter zu zielen. Weil es zu schwer war, hatte einer der Russen mit angepackt. Der Junge hatte bitterlich geweint und gezittert. Sie hatten ihn angeschrien und verspottet. Ein Schuss hatte sich gelöst. Er war einen Meter vor die Füße der Mutter eingeschlagen und hatte Schnee und Dreck aufgepeitscht.

Die Deutschen schien das zu amüsieren.

Tarassow hatte gefleht und gebettelt, aber bei jedem Wort hatten sie ihn geschlagen und gedroht, seiner Ehefrau die Brüste abzuschneiden und sie den Hunden zum Fraß vorzuwerfen.

Die Hunde bellten in Gitterboxen auf der Ladefläche eines Jeeps. Blutgierige Bestien, die mit ihren riesigen Schädeln die Eisenstäbe zu verbiegen drohten.

Die Deutschen schüttelten Hände. Ein Koffer wurde übergeben. Vermutlich befand sich Geld darin. Viel Geld. Mehr als Tarassow je in seinem Leben mit dem Fang seiner Fallen verdienen könnte.

Und doch reichte es für fünf Menschenleben.

Die beiden Deutschen kamen näher. Unwillkürlich musste Tarassow an die Geschichten seines Vaters denken. An die Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg, als die Nazis nach Russland gekommen waren. Arrogante, kulturlose Deutsche. Ohne Gesichtsfarbe, ohne Mimik waren die Soldaten einmarschiert und hatten Tod und Elend zurückgelassen. Darum ging es in den Erzählungen.

Die hier zeigten eine Gefühlskälte, die Tarassow erschaudern ließ. Der eine mehr als der andere. Trotzdem sahen beide mit den Gewehren gleich gefährlich aus. Tarassow hatte nur eine alte Jagdbüchse zu Hause stehen. Deren Waffen muteten edel an. Die Läufe glänzten nachtschwarz und der Schaft war mit silbernen Verzierungen versehen.

Der Stämmigere von beiden sagte etwas. Daraufhin redete der Dolmetscher, ein bäriger Kerl mit kurzgeschorenen Haaren, der als Einziger keine Mütze trug. Sein rechtes Ohr war kleiner als das linke. Der Dolmetscher und die Deutschen unterhielten sich in der fremden Sprache. Einer der Russen erwiderte in der Landessprache: »Ja, das ist der Hirsch.«

Dabei deutete er auf Tarassow.

Zufrieden nickte der Deutsche, der geredet hatte. Der andere schulterte stumm seine Waffe. Er machte einen unsicheren Eindruck, wenn das überhaupt möglich war. In Anbetracht des Zustandes von Tarassows Familie war dies sogar eine gefasste Haltung.

Ein Russe löste die Riegel an den Hundeboxen. Wildes Gebell hallte zwischen den Tannen und Hügeln. Am liebsten wollte sich Tarassow die Ohren zuhalten, aber seine Hände waren gefesselt. Hier gab es nur erbarmungslose Natur und den Jagdtrieb des Weißen Wolfes.

Und zusätzlich die wehrlose Beute.

Die Männer musterten den Jüngsten. Sie schüttelten enttäuscht die Köpfe. Die Deutschen nickten zuversichtlich. Ihnen schien es egal zu sein, dass es sich um ein Kind handelte. Außerdem war da noch der Achtzehnjährige, dessen Muskeln sie betastet hatten. Zufrieden hatten sie den Daumen gehoben.

Die Männer nahmen alle einen letzten Zug aus der Wodkaflasche. Als sie leer war, warf einer der Russen sie in ein Fahrzeug, als wollte er keinerlei Spuren hinterlassen. Sie prüften die grauen Uniformjacken und legten sich kakifarbene Tücher um den Hals.

Der Jäger kniet nicht vor der Beute, er kniet über ihr, stand darauf. Sie hatten es zweisprachig vorgelesen. Salutschüsse donnerten in den trostlosen Himmel.

Sie brüllten gemeinsam: »Tag des Sieges!«

Tag des Sieges. Der 9. Mai. Ein russischer Feiertag. Welch ein scheußliches Gedenken daran!

Tarassows Kinder heulten und kreischten. Seine Ehefrau sah ihn flehend an. Die Tränen hatten auf ihren Wangen düstere Streifen gebildet. Der Dolmetscher setzte sich auf die Beifahrerseite eines Jeeps. Tarassow sah durch die Frontscheibe, wie er in seine Hände atmete und anschließend die Arme verschränkte. Offensichtlich beteiligte er sich nicht an der Jagd.

Der eine Deutsche, der sich bisher als Wortführer gegeben hatte, klopfte seinem Begleiter aufmunternd auf die Schultern. Beide nickten sich zu. Von den fünf verbliebenen Russen trat einer nach vorn, zerschnitt Tarassow und dem achtzehnjährigen Sohn die Fesseln und befahl: »Lauft!«

Tarassow weigerte sich.

»Lauft! Schnell!«

Wieder schüttelte Tarassow den Kopf.

Der Sprecher lief an ihm vorbei und ohne Vorandrohung wuchtete er Tarassows Frau die Faust in den Magen. Nackt, erschöpft und keuchend musste Tarassow mit ansehen, wie seine Frau zusammenbrach und im Schnee eine hundeelende Figur abgab.

Der Achtzehnjährige brüllte und wollte seinen Vater wegziehen. Dann lief er los. Tarassow wusste, dass er ihn nie wiedersehen würde.

»Lauf!«

»Bitte!«, flehte Tarassow mit gebrechlicher Stimme.

Der Russe zog sein Jagdmesser aus dem Stiefel und trat auf die Tochter zu. Die Spitze der Klinge setzte er in ihren Bauchnabel und deutete an, sie von unten nach oben aufzuschlitzen, wenn er sich weigerte zu laufen.

Tarassow fiel auf seine Knie.

Diesmal schüttelte der Russe den Kopf.

Doch bevor er mit dem Messer zustechen konnte, gebot der Deutsche Einhalt. Er kam herzu und bedeutete dem Russen, ein Stück zurückzutreten. Gleichgültig steckte dieser das Messer weg.

Im Gegenzug hob der Deutsche das Gewehr und richtete es auf den Jüngsten. Tarassows Sohn hielt die Luft an – genauso wie Tarassow selbst.

Der Deutsche wandte den Blick auf ihn und grinste. Dann redete er ebenfalls in Russisch und sagte: »Lauf!«

Zwei Sekunden hockte Tarassow nur stumm da, zuletzt ließ er sich vollends zu Boden fallen und kroch händeringend auf den Deutschen zu.

Der folgende Schuss zerriss alles in ihm.

Blut und böser Mann
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