Kapitel 24

 

Die Jacke wollte ihm nicht mehr so recht passen, so abgemagert sah Donners Vater aus. Auf dem Hemd darunter leuchtete ein öliger Fleck. Vermutlich Essensreste.

Franz Donner hob seinen Hut an und fuhr sich durch das strubbelige Haar. Er sah aus wie ein Demenzkranker, der nicht mehr wusste, wo er hingehörte. Er und sein Sohn hatten sich seit geraumer Zeit nichts mehr zu sagen, aber so wie er dastand, tat er Donner plötzlich leid. Die gesamte bedauernswerte Erscheinung ließ seine eigenen Sorgen ein Stück in die Ferne rücken. »Komm schon rein. Willst du was trinken?«

»Ein Wasser vielleicht.« Die gewohnte Härte in der Stimme des Vaters fehlte. Donner musste genau hinhören, um ihn überhaupt zu verstehen.

»Ich habe mir gerade eine Sektflasche geöffnet, um mit mir selbst anzustoßen. Kann ich dir ein Glas anbieten?«

Franz Donner gab einen Laut von sich, den Donner als Zustimmung wertete.

»Also, wie geht es Mutter?«

»Schlecht. Äußerst schlecht.«

Die Stimme von Franz Donner kam aus dem Flur. Anscheinend hatte er vor, dort Wurzeln zu schlagen. Als Donner mit zwei Gläsern aus der Küche ging, merkte er, dass sein Vater nicht vorhatte, Jacke und Hut abzulegen. Er reichte ihm das Glas und beide stießen an. Sie tranken zur gleichen Zeit.

»Was heißt schlecht? Schlechter als letzten Sommer?«

Franz Donner nickte. »Ich glaube, ja.«

»Du glaubst es nur? Hör zu, ich hatte den miesesten Geburtstag in vierzig Jahren. Ich bin zu müde für Ratespiele.«

»Inzwischen vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht vom Tod spricht. In den Nächten wacht sie auf und geistert ziellos durch die Wohnung. Meistens wache ich von den Geräuschen des Rollstuhls auf. Weißt du, wie gespenstisch das ist?«

Donner hatte eine Ahnung, aber er schob es gedanklich weit von sich weg. Er wollte nicht wahrhaben, dass seine einst so fröhliche Mutter geistig dermaßen abgebaut hatte.

»Heute früh, kurz nach zwei Uhr, saß sie mit einer Steakgabel an meinem Bett. Sie hatte sie wohl aus der Küche geholt. Auf meine Frage konnte sie sich nicht daran erinnern, wie die Gabel in ihre Hand gekommen ist.«

»Das ist ja der blanke Horror.«

»Du sagst es, mein Lieber. Zuletzt musste ich dreimal den Notarzt rufen, weil sie Anfälle bekam.« Er schluchzte und trank das Glas in einem Zug leer. »Wenn man dem Menschen, den man liebt, nicht helfen kann, ist dies das größte Unglück der Welt. Verstehst du das, mein Sohn?«

Mein Sohn! Wann hat er das zuletzt zu mir gesagt?

Donner war so perplex, dass auch er sein Glas hastig leerte.

»Okay, brauchst du Abwechslung? Bist du deswegen gekommen?«

»Ich musste einfach mal raus, um den Kopf freizubekommen.«

»Jetzt, wo ich dich sehe, kommt mir eine Idee. Warte kurz hier!« Ohne weitere Erklärung stürzte Donner ins Wohnzimmer, um eine handgroße Statue aus schwarzem Glas zu holen. Er drückte sie seinem Vater in die Hände, der sie aufmerksam begutachtete.

»Sieht aus wie ein Phönix aus Kristallglas. Ist das ein Geburtstagsgeschenk?«

»Kein Geschenk. Ich vermute, es handelt sich um Hehlerware. Die habe ich zusammen mit hundert anderen Statuen bei einer Durchsuchung entdeckt.«

»Stammt das Teil etwa aus diesem Klub? Atmos…«

Donner brauchte ihn nur ernst anzusehen und sein Vater nickte zum Zeichen, dass er richtiglag. Auch wenn er an den zurückliegenden Tagen weder Zeitung gelesen noch Fernsehnachrichten geschaut hatte, wusste er allzu gut, was er der Boulevardpresse für Zündstoff geliefert hatte.

»Ich habe sie heimlich mitgehen lassen. Frag mich ja nicht nach den Umständen, sondern verrate mir lieber, ob du noch Kontakt zu diesem Vietnamesen hast. Den mit den elf Zehen.«

»Lu ist Halbvietnamese. Während meiner Zeit bei der Kripo hat er mir zigmal aus der Klemme geholfen, aber seine Zehen habe ich nie gesehen.«

»Vergessen wir mal die Zehen. Du erwähntest einmal, dass dieser Lu Ahnung von Kunstgegenständen hat. Ich muss wissen, was das für eine Statue ist und woher sie stammt.«

»Also schön, das klingt zumindest nach einer interessanten Story. Ich werde ihn bei Gelegenheit auf die Figur ansprechen.«

Donner sah ihn auffordernd an, woraufhin sein Vater verdutzt zurückschaute. »Was denn? Jetzt gleich?«

Eine halbe Stunde später befanden sie sich auf dem Sonnenberg und klingelten etliche Male an dem Mehrfamilienhaus, welches Lu vor fünfzehn Jahren gekauft hatte. Neben sechs Wohnungen für seine sieben Kinder samt Enkeln und die Eltern betrieb er in dem Gebäude einen Gebrauchtwarenhandel, ein Studio für asiatische Massagen und einen speziellen Raum für Wahrsagerdienste. Laut Vaters Aussage hielt sich Lu für einen Schamanen oder besser, für einen omnipotenten Wunderheiler. Außerdem glaubte er an die Reinkarnation, weshalb er fest davon ausging, in einem früheren Leben das Glücksschwein irgendeines verrückten Buddhisten gewesen zu sein. Angeblich galt es als große Ehre, dass dieser ihn damals verspeist hatte.

Ist Buddha nicht an einem vergifteten Stück Schweinefleisch gestorben?

»Denk dran, er kann deine Gedanken lesen«, mahnte Franz Donner.

»Nicht mal ich kann meine Gedanken lesen.«

Miesepetrig trat Donner gegen die Türkante, bis weit oben ein Fenster aufging. Ein dunkler Kopf schaute heraus. Eine Sekunde später blendete sie ein Taschenlampenstrahl und jemand wetterte mehrsprachig.

Donner warf seinem Vater einen Seitenblick zu. »Er scheint nicht glücklich über unseren Besuch zu sein.«

»Das liegt daran, dass es hier drei Meilen gegen den Wind nach Bullen stinkt.«

Lu ließ beide warten. Nach einer Ewigkeit klackten die Schlösser und der kleine Schamane schaute aus einem schnittigen purpurroten Morgenmantel mit lauter goldenen Schweinskopfmotiven ins Freie.

»Ich will keinen Ärger, Herr Donner«, erklärte Lu sofort.

Er sprach in überraschend glasklarem Deutsch. Dabei hatte Donner gehofft, seinen eigenen Nachnamen wenigstens einmal mit einem L zu hören.

»Also, was wollen Herr Donner und dieser fürchterliche Mann von mir?«

Mit dem fürchterlichen Mann war Donner gemeint. Für die unverkennbaren Narben im Gesicht und die Kahlstelle im Kopfhaar mit der unter der Haut liegenden Metallplatte hatte er schon schlimmere Beschimpfungen hinnehmen müssen.

»Können wir eintreten, Lu?«, fragte Franz Donner.

Lu schimpfte fremdländisch, schaute suchend die Gegend ab und winkte sie dann in den Hausflur. Franz Donner bedankte sich artig. Lu wippte ungeduldig in seinen Hausschuhen.

Donner zog die Phönixstatue hervor und übergab sie dem kleinen Mann. »Wo bekomme ich so was her?«

Ohne die Statue überhaupt inspiziert zu haben, antwortete Lu: »Internet.«

»Sehr witzig! Nein, ich meine speziell diese Statue. Stammt sie aus einem Einbruch?«

Lu verzog den Mund, holte eine hauchdünne Faltbrille aus seiner Mantelbrusttasche und setzte sie auf seine Nase. Er drehte und klopfte den Phönix ab. »Swarovski. Ist eine Fälschung. Eine meisterhafte Fälschung. Bis auf das fehlende Logo, das vor dem Verkauf noch eingraviert wird.«

»Swarovski Kristall?«, fragte Franz Donner.

Lu bestätigte.

»Also handelt es sich eher um kein Diebesgut«, reimte sich Donner zusammen.

Lu schniefte. »Wer kann das schon sagen?« Desinteressiert wollte er den Phönix Donner in die Hände legen, was Donner jedoch ablehnte.

»Diese Statue ist mir im Atmosfera vor die Füße gefallen.«

»Und jetzt wollen Sie wissen, wer der Eigentümer ist, damit Sie sie zurückgeben können«, vollendete Lu seine Ausführung.

Anscheinend kannst du doch Gedanken lesen.

»Ich suche tatsächlich jemanden. Einen untergetauchten Kollegen. Es ist mehr ein Instinkt, dass er mit der Sache etwas zu tun hat. Und eventuell kann mir das bei einer anderen Sache helfen.« Er verschwieg, dass es sich bei der anderen Sache um die Fälle Brecht und Brandner handelte.

»Vergessen Sie es«, widersetzte sich Lu und machte Anstalten, die Haustür zu öffnen, um sie zum Gehen zu animieren. »Das Atmosfera gehört den Russen. Das ist eine Spur zu heiß für Lu.«

»Ach, kommen Sie schon! Wie viel wollen Sie?« Donner rieb seine Fingerspitzen in der Luft: das internationale Zeichen für Geld.

»Nein.« Lu schaute ernst aus seinen Mandelaugen.

Hilfesuchend wandte sich Donner seinem Vater zu.

»Was ist eigentlich damals aus der Sache mit dem arabischen Fischfutter geworden?«, mischte der sich prompt ein. »Wie hat das Gesundheitsamt reagiert, nachdem sich die Fische in Albinos verwandelt haben?«

»Willst du mich schon wieder erpressen? Nach allem, was ich für dich getan habe?«

»Diesmal sollst du lediglich meinem Sohn helfen.« Franz Donner klopfte Donner wie zur Bestätigung auf den Rücken.

Lu schien wenig glücklich. Mit einem Zischlaut sagte er: »Aber das ist der allerletzte Gefallen. Und sollte mir die Sache nicht koscher vorkommen, habe ich die Statue nie gesehen.«

Koscher!

Der Vietnamese legte den Akzent auf die zweite Silbe. Es gelang Donner nicht, sich einen Lacher zu verkneifen.

Kannst du das zehnmal schnell hintereinander aufsagen?

»Welche Statue?«, fragte Franz Donner ohne das kleinste Anzeichen von Humor.

Nachdem das geklärt war, drängte Lu Donner und seinen Vater nach draußen – durch den Hinterausgang. Zurück an den Fahrzeugen, verabschiedete sich Donner.

»Grüß mir Mutter!«

»Danke«, raunte Franz Donner. Er stand aufrechter als zuvor. »Für eine Stunde habe ich mich wieder gefühlt wie ein Ermittler.«

Donner erwiderte nichts darauf. Er wusste ganz genau, was sein Vater damit meinte.

 

Dreiundzwanzig Minuten später schaltete Franz Donner das Licht in seiner Wohnung an. Als die Glühwendel der Flurlampe entfachte, erlosch sein Herz. Der Schwächeanfall traf ihn mit brachialer Wucht. Zu grauenhaft war der Anblick des vielen Blutes auf dem Flurteppich und an der geschlossenen Badtür.

Blut und böser Mann
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