Kapitel 51

 

Der Überfall auf Kolka erfolgte, als sie den Haupteingang der KPI betrat. Rammler hatte am Einlass gewartet. Er packte ihren Arm und zog sie vorbei an erstaunten Kollegen über den Flur zu einem der leer stehenden Räume. Ihre Drohung mit der Frauenbeauftragten schien er zu ignorieren. Es misslang ihr auch nicht, sich aus seinem Griff zu lösen. Die sexuelle Anziehungskraft und die Furcht quetschten ihr Herz derart zusammen, dass sie sich mit kaum zu nennender Gegenwehr abführen ließ. Er schleuderte sie regelrecht in das Zimmer und knallte die Tür zu.

Geistesgegenwärtig trat sie zu einem Aktenstapel, auf dem ein in einer Plastiktüte sichergestelltes Katana lag. »Fassen Sie mich je wieder so grob an, dann kastriere ich sie damit!«

»Setzen Sie sich!« Selbst sein Fingerzeig strahlte mehr Schärfe aus als das japanische Schwert. Irgendetwas hatte der Mann an sich, das die Menschen willenlos gehorchen ließ. Aber vielleicht war das nur so ein Männchen-Weibchen-Hormon-Ding.

Wenigstens versuchte sie eine bittere Miene aufrecht zu halten.

Doch was sie in seinem Gesicht ablesen konnte, gefiel ihr nicht. Die Augäpfel waren rot gerändert, die Schläfen wirkten finstergrau und etwas Raubtierartiges lag um seine Mundwinkel.

»Ich kann Sie nicht schützen, wenn Sie ständig Dummheiten machen«, begann er impulsiver als die Tage zuvor.

»Vor was wollen Sie mich denn schützen?«

»Verdammt!« Er pfefferte die Unterlagenmappe, die er bis dahin in der Hand gehalten hatte, geräuschvoll auf den Tisch. »Haben Sie denn immer noch nichts kapiert? Möchten Sie so enden wie die Praktikantin? Verstümmelt und weggeworfen wie Abfall?«

»Sie haben mir doch bis jetzt überhaupt nichts verraten!«, fuhr sie auf. »Alles, was ich von Ihnen höre, ist: Geben Sie mir Ihre Hände!«

»Sie haben nach Russland telefoniert.«

Kolka fühlte sich ertappt, obwohl sie kein schlechtes Gewissen haben musste, denn Ermittlungen waren ihre verdammte Pflicht. »Das ist Spionage. Woher wissen Sie davon?«

»Wenn Sie wüssten, was ich alles weiß, würden Sie mich anflehen, ich sollte Ihnen etwas von meinem Tütchen abgeben. Und im Übrigen ist für diese Telefonüberwachung Ihr LKA zuständig.«

»Was ist hier eigentlich los?«

»Sie haben wirklich keine Ahnung, um was es sich bei Mayak handelt, nicht wahr?«

Wie automatisch schüttelte sie den Kopf. »Ich dachte, es wäre eine Firma …«

Der erwartete zynische Laut von Rammler blieb aus. Stattdessen zog er sich einen Stuhl heran, wie er es bisher immer getan hatte. Wie beim letzten Mal beugte er sich dazu vor.

Wenn du denkst, du kriegst meine Hände, hast du dich geschnitten.

Er schien ihre Gedanken lesen zu können und lehnte sich zurück. »Mayak ist S65.«

»Das Thema hatten wir bereits beim Frühstück. Sie haben behauptet, S65 wäre bloße Verschwörungstheorie. Die Berichte im Internet stützen Ihre Aussage, deshalb habe ich Ihnen Glauben geschenkt.«

»Ich habe Sie angelogen. S65 ist eine Gruppe, die sich 1965 in der damaligen Sowjetunion gegründet hat. Am 9. Mai, dem Gedenktag zum Sieg über das Deutsche Reich. Aber bei S65 handelt es sich um Landesverräter, Sympathisanten der Nationalsozialisten. Das sind Fanatiker, die Menschen töten. Eine Handvoll kranker Leute. Die Väter der heutigen Mitglieder hatten am Tag des Sieges gefeiert und spät in der Nacht war man dazu übergegangen, aus einer Laune heraus wehrlose Opfer zu jagen. Man hat sie durch den Wald getrieben und letztlich erschossen.«

»Moment«, unterbrach Kolka ihn. »Soll das heißen, es stimmt, was auf einigen Internetseiten behauptet wird? S65 ist der Weiße Wolf? Und er geht auf Menschenjagd?«

Rammler zeigte keine Regung. Also stimmte es wohl.

»Die Männer von einst wurden alt, manche starben, der Gedanke lebte weiter«, fuhr er fort, als unterhielte er sich mit ihr über das Wetter. »Geist lässt sich dämpfen, aber niemals ausrotten. Ich will gar nicht von Tradition sprechen, denn dieses Handeln ist eine Gräueltat an der Menschheit. Sie tun es, weil es ein lukratives Geschäft ist. Das sind Spinner, die als Nazis verkleidet ihre eigenen Landsleute jagen. Angeblich können sie kaum zwei Sätze in einer Fremdsprache, weshalb sie auf einen Dolmetscher zurückgreifen, sobald Ausländer anwesend sind. Wenn man genug Geld besitzt, kann man sich bei einer solchen Jagd einkaufen. Es ist ein verdammtes Geschäft.«

Mit einem Mal wurde Kolka übel. Sie musste eine Hand auf den Mund pressen. Mit Mühe bekämpfte sie den Brechreiz.

Sag mir, dass das nicht wahr ist! Bitte nicht!

»Die russischen Strafverfolgungsbehörden haben es aufgegeben, nach den Hintermännern zu suchen. Für die Polizei gibt es dringendere Angelegenheiten. Solange im Jahr weniger als zwei Handvoll Menschen bei dieser Art von Vergnügen verschwinden, schenkt man dem Treiben keine Beachtung. Man sieht weg. Eine solche Jagd findet in Teilen von Russland statt, wo kaum noch Bevölkerung vermutet wird. Teilweise kommt auf einen Quadratkilometer Fläche nur eine Familie.«

»Und wir? Können wir etwas tun? Ich meine, deshalb sind Sie doch hier, weil Sie etwas dagegen tun werden. Habe ich recht?«

Er blinzelte nicht einmal, sondern sah sie mit einem Hauch von Bedauern an. Betrübt ließ Kolka den Kopf sinken. Sie war Ermittlerin beim K11, Tod und Grausamkeit hatte sie sich ausgesucht. Aber das Erzählte war eine Stufe zu viel.

Sie spürte, wie er ihr Kinn hob. Sanft und verführerisch. Dafür schmeckten die nachfolgenden Worte bitter.

»Wir sind zweitausend Kilometer von Moskau entfernt. Nicht einmal der BND könnte etwas dagegen tun. Uns sind die Hände gebunden. Es tut mir leid, dass ich Ihnen die Wahrheit sagen musste, ich hatte gehofft, diese vor Ihnen verheimlichen zu können. Sie sollten das nie erfahren.«

»Aber warum steht die Telefonnummer von Mayak beziehungsweise S65 in den Notizen von Felix Brandner?«

Wieder lehnte sich Rammler zurück. Dabei legte er den Kopf leicht schräg. Eine Geste, die ihr verdeutlichte, dass sie die Antwort kannte.

»Brandner hat an einer solchen Jagd teilgenommen, habe ich recht?«

»Seit zehn Jahren. Wie zuvor sein Vater.«

»Das ist ja abscheulich! Und Brecht? Wusste Brecht davon?«

»Ob er davon wusste?« Diesmal lachte Rammler zynisch. »Die beiden sind Jagdwaffenhersteller.«

Oh nein, er auch!

Während sie sich die grauenvollsten Szenarien zusammenreimte, dachte sie nach, was das für den aktuellen Fall bedeutete. »Jemand ist auf Rache aus.«

»Rache ist so ein derbes Wort. Manchmal wird Rache weniger verachtenswert, sobald man die vollständigen Hintergründe kennt. Geben Sie es auf, darüber nachzudenken. Sie können nichts ausrichten.«

»Und Sie? Was werden Sie jetzt unternehmen?«

Er sah auf seine Bruno Banani Armbanduhr, die er sich als Andenken an die Stadt gekauft und mit der er beim Frühstück vor ihr geprotzt hatte. »Ich werde meine Anzüge und Schuhe aus dem Hotelzimmer räumen und nach Wiesbaden zurückkehren.«

»Wie bitte?«

»Sie können auch nach Hause gehen. Ihre LKA-Kollegen haben dafür gesorgt, dass man Sie aus der Soko genommen hat.«

»Aber das ist …«

»… eine Chance, Ihren guten Ruf zu retten. Ihr Kommissariatsleiter Stark hat sich für Sie eingesetzt, am Ende musste er sich dem Druck seiner Vorgesetzten beugen.«

»Sie waren das!«

Sein Handy piepste. Anstatt ihr eine Antwort zu geben, las er die Nachricht. Sie schien ihm nicht zu gefallen.

»Gratuliere, Sie und Erik Donner passen vorzüglich zusammen! Der kleine Rambo kann genauso wenig aufgeben wie Sie. Und wie es scheint, ist der direkt im Anmarsch. Warten Sie zwei Minuten, ich bin gleich wieder da.«

Ohne weitere Worte zu verlieren, stürzte er zur Tür hinaus.

Seine Mappe hatte er vergessen. Die Drogen machten ihm wohl langsam das Hirn weich. Nur kurz zögerte Kolka, dann fing sie an, in den Unterlagen zu blättern.

Ganz hinten rutschte eine lose Seite heraus.

Sie erkannte es sofort als DNA-Untersuchungsergebnis. Was darauf stand, brachte eine Vielzahl an Rädchen in ihrem Gehirn zum Arbeiten. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich nichts gewusst hatte.

Blut und böser Mann
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