Kapitel 34
Durch die Schreie von Brandners Frau wurde Polizeimeister Stefan Zornitz geweckt. Die plötzliche Helligkeit im Raum irritierte ihn. Sie verunsicherte ihn so sehr, dass er erschrocken in eine Ecke kroch. Er hatte damit gerechnet, noch immer auf den eiskalten Fliesen zu liegen. Gefesselt, geknebelt, blind. Neben ihm der tote Körper, vermutlich von Felix Brandner …
Stattdessen konnte er Arme und Beine bewegen. Und man hatte ihm die Augenbinde abgenommen. Sogar die Tür im Raum stand offen. Von draußen drang gedämpftes Tageslicht herein. Vogelgezwitscher und das Rauschen von Bäumen war deutlich hörbar. Die Dunkelheit und der Geruch von Unrat waren vergangen. Einzig die Nacktheit konnte er nicht wegblinzeln.
Die Nacktheit und die Angst.
Die Schreie, die er soeben vernommen hatte, waren bloße Einbildung. Brandners Frau war längst tot. Er erinnerte sich an jedes einzelne Geräusch: an die Laute, als die Bestie sie in seinem Beisein hingerichtet hatte. Zornitz hatte das gummiartige Gleiten der Schuhsohlen gehört, das Grunzen des Unbekannten, das fiese Lachen, das Flehen der Frau, die Panikschreie, das Schmatzen der Klinge, die dumpfen Schläge in Fleisch und gegen die Knochen. Während der Tat war Zornitz fremdes Blut heiß auf die Haut gespritzt. Er hatte geglaubt, er würde als Nächster einen tödlichen Stich oder zumindest einen Fausthieb spüren.
Nichts dergleichen war passiert. Man hatte ihn an einen anderen Ort gebracht.
Mit der widerlichen Vorstellung im Kopf zog er sich an der Wand auf die Beine. Seine Knie und Fußgelenke fühlten sich wie Gummi an. Erst nach einiger Verzögerung kehrte der feste Stand zurück.
Ein Blick im leeren Raum verriet ihm, dass er sich in einer alten Baracke mit dunklem, fast schwarzem Holz an der Decke befand. Teilweise bröckelte der Putz von den Wänden und brachte die darunterliegenden roten Ziegel zum Vorschein. Zornitz zählte eins und eins zusammen. Er wusste, dass man ihm nur aus einem Grund die Fesseln abgenommen hatte. Ein einziger Grund, warum er noch lebte …
Er erinnerte sich an das Emblem mit dem weißen Wolf, das ihm Brecht kurz vor seiner Entführung gezeigt hatte. S65. Vielleicht stimmte das, was im Internet über die Gruppe stand. Vielleicht war er nun Teil einer Jagd.
Ängstlich wankte Zornitz ins Freie. Die frische Luft rieb wie Sandpapier an seiner Lunge. Um ihn herum befand sich eine traumhafte Naturkulisse aus uralten, verwachsenen Bäumen und Sträuchern. Aber der Schein trog. Er befand sich in der Todeszone.
Nina Richter schöpfte Hoffnung. Sie hatte den Mut gefunden, ihre Unterarme von den Nägeln loszureißen. Entsetzt von ihrer eigenen Tapferkeit stolperte sie vom Stuhl weg. Blut und Haut klebten dick an den Stahlköpfen. Die Tischplatte zeigte ein irres Gemälde aus karminroten Spritzern und Streifen.
Sie wandte den Blick weg von dem scheußlichen Bild, hin zu dem Schraubendreher, der als Mahnung galt und der noch immer im Holz steckte. Sie schaffte es nicht, nach dem Werkzeug zu greifen. Beide Arme wollten ihr vor Schmerzen abfallen. Sie presste sie dicht an den Körper. Das quälende Pulsieren nahm von Sekunde zu Sekunde an Intensität zu.
Auf Zehenspitzen tapste sie zur offen stehenden Tür. Über ihr schwebte die dunkle, ölige Holzdecke wie ein bedrohlicher Himmel. Unter ihren Füßen fühlte sich der Beton eiskalt an. Steinchen pikten in ihre Sohlen. Am Ausgang des Zimmers blieb sie stehen und spähte in den Flur der Baracke. Irgendwo dort gab es Freiheit. Sie konnte entkommen. Oder man ließ sie einfach gehen.
Die Hoffnung beflügelte sie. Fast leichtfüßig wollte sie über die Schwelle treten, als ein Schuss die Stille zerriss. Jemand war gerade gestorben. Sie wusste es augenblicklich.
Schreiend taumelte sie zu Boden.
Nachdem das Echo über dem Gebiet verklungen war, rannte sie um ihr Leben.
Kolka musste einsehen, dass Erik völlig verrückt war. Sie musste einschreiten, bevor er sie in ernste Schwierigkeiten brachte. Sie und sich selbst!
Das hier konnte sie den Job bei der Mordkommission kosten. Wenn sie Anton Belows Wohnung ohne die Zustimmung des Staatsanwalts betraten, standen sie auf der falschen Seite des Gesetzes. Möglicherweise würde man gegen alle Beteiligten ein Strafverfahren wegen Hausfriedensbruch einleiten. Sie musste Erik unbedingt stoppen, damit er seine Karriere nicht vollends ruinierte.
»Bitte, Erik!«, bedrängte sie ihn. »Tu mir das nicht an. Ich beknie Stark, bloß lass die Tür in Ruhe!«
»Du hättest mit meinem Vater am Auto bleiben sollen.« Ohne auf sie zu hören, begann er zu zählen. »Eins.«
Sie reagierte blitzschnell. Breitbeinig, die Hände links und rechts in den Türrahmen gestemmt, versperrte sie ihm den Weg.
»Zwei.«
»Wenn deine Worte gestern Abend der Wahrheit entsprachen, ignorierst du mich diesmal nicht«, versuchte sie an seine heißblütigen Versprechen von letzter Nacht zu appellieren.
Erik lockerte den Mantel über den Schultern. »Drei!«
Damit stürzte er auf sie zu und sie wusste, dass dieser Tag übel enden würde.
Als Henry Stark aus dem Zimmer des Soko-Leiters Totner schlich, fragte er sich, ob man sein Engagement überhaupt richtig würdigte und ob sein Arbeitseifer noch Sinn machte. Egal wie fleißig er malochte, es war niemals genug. Ständig hörte er nur Tadel und die erschlagende Nachfrage, wo die Ergebnisse blieben.
Stark war kein Romantiker, der sich Polizeiarbeit in guter alter Sherlock-Holmes-Manier vorstellte. Diesen Punkt hatte es bei ihm nie gegeben. Aber er glaubte fest daran, dass es Leute brauchte, die dem Verbrechen die Stirn boten.
Als einen solchen sah er sich.
Das Gespräch mit seinem Vorgesetzten war allerdings ernüchternd verlaufen. Totner hatte getobt, wieso Stark sich bei der Besprechung von einem Küken wie Annegret Kolka derart hatte vorführen lassen. Stark hatte geschwiegen, als hätte er eine Ladung Pfannkuchen im Mund. Bei solchen Diskussionen schluckte er den Ärger lieber runter und überlegte vielmehr, welche Schritte er als Nächstes tun musste, um die Gunst seines Chefs zurückzugewinnen. Vielleicht stimmte es wirklich, was die Kollegen hinter seinem Rücken tuschelten: Vermutlich war er ein Streber, der zu allem Ja und Amen sagte.
Warum sich auf einmal das LKA für die Arbeit der Soko interessierte, verstand er dagegen kein bisschen …
Kaum dass er sein eigenes Büro erreichte und sich ausgelaugt in den Sessel fallen ließ, klingelte der Dienstapparat. Es war Marie Lehnhard. Eine der Mitarbeiterinnen, die er vor langer Zeit auf seine Seite gezogen und für seine Sache genutzt hatte.
»Henry, du sollst dringend zur Baustelle am Conti-Loch kommen!«, begann sie aufgeregt. »Außendienstleiter Kroll hat explizit nach dir verlangt.«
»Ich soll zum größten Schandfleck der Stadt? Brauchen die jetzt schon beim Neubau des Technischen Rathauses die Hilfe der Kripo?«
»Man hat bei Erdarbeiten drei Leichen entdeckt.«
»Gleich drei?« Stark griff nach einem Taschentuch und wischte Schweiß von der Stirn. »Gibt es einen Zusammenhang zum aktuellen Fall?«
»Laut der Beschreibungen könnte es sich bei den Toten um Luis Reich, Stefan Zornitz und Brandners Frau handeln.«
Abseits der Stadt rammte ein Mann einen Spaten in die Walderde und warf seine Arbeitskleidung in das ausgegrabene Loch. Er hatte die Uniform nie leiden können. Vor allem die schwarze Schirmmütze hatte er gehasst. Im Sommer hatte man darunter geschwitzt, im Winter hatte es an den Ohren gezogen.
Der Mann schnaufte schwer. Das Alter vernichtete allmählich sämtliche Körperzellen und wenn das Wetter wechselte, zwickte es in den Gelenken über alle Maßen. Dennoch trainierte er täglich mit Gewichten und einem Springseil – und das hier war ohnehin sein letzter Auftrag.
Leider drohten unvorhergesehene Dinge seinen Plan zu durchkreuzen. Das ärgerte ihn. Er musste handeln und sämtliche Personen auf seiner Liste endlich verschwinden lassen.
Verschwinden lassen!
Es galt sehr viele Beweise beiseitezuschaffen. Zum Beispiel in einem Erdloch wie diesem vor seinen Schuhspitzen.
Er griff nach dem Spaten. Plötzlich zappelte der Pager in seiner Jackentasche. Er schaute nach dem Alarm und wusste augenblicklich, dass weitere unvorhergesehene Dinge eingetreten waren.
Er wurde alt.
Und möglicherweise machte er Fehler.