Kapitel 20

 

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie unterschied sich äußerlich nicht vom Gebäude, in dem man die Erwachsenen therapierte. Als Nervenheilanstalt war die Anlage im Jahr 1905 eröffnet worden. Anfang der Neunziger hatte man bereits eine Schließung diskutiert, bis man sich zu einer Sanierung entschloss.

Einige wenige Fensterbilder hatten Kolka den Weg zur Station gewiesen. Als die sterilweiße Eingangstür hinter ihr ins Schloss fiel, kam sie sich selbst ein Stück weit verloren vor. Ein Blick auf den grauen Bodenbelag, den man anscheinend in jedem Krankenhaus vorfand, verstärkte Kolkas Emotionen. Grau wirkte so belanglos, so unglücklich.

Zu ihrer Erleichterung hellten himmelblaue und orangefarbene Tapeten die Optik des Flurs auf. Sie bemerkte, wie sie anfing zu schmunzeln. Das lag an den Wandbildern. Motive von Ernie und Bert aus der Sesamstraße und Lucky Luke kamen ihr vor wie Relikte aus einem längst vergessenen Jahrzehnt. Mit einem Schlag fühlte sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt.

Kennen die heutigen Kinder diese Figuren überhaupt noch?

Sie stellte sich vor, wie die Einrichtung auf die jungen Patienten wirken musste.

Wie sich wohl Lilly gefühlt hat, als man sie nach der körperlichen Untersuchung hierher gebracht hat?

Vermutlich hatte sie ihre Umgebung wie im Rausch wahrgenommen, wie einen bunten Strudel hinter Milchglas. Laut Arztaussage hatte sie die Behandlung in der Notaufnahme kommentarlos über sich ergehen lassen. Lilly habe einfach an die Wand gestiert, als verfolgte sie im Fernsehen eine Kindersendung.

»Warten Sie bitte hier«, forderte die Stationsschwester Kolka auf und verschwand in der Anmeldung.

Hinter der Glasscheibe konnte Kolka sehen, wie die Schwester mit einer Frau in grüner Kleidung redete. Augenscheinlich die Oberschwester, obwohl sie dafür zu jung erschien – als wäre sie die kindliche Kaiserin aus der Unendlichen Geschichte.

Auch wenn sich Kolka sicher war, dass sie fantasierte, roch es für sie auf der geschlossenen Station der Psychiatrie irgendwie nach Tabletten und Pillen. Sie konnte sich nicht von dem Geruch befreien, sie hätte ihn nicht einmal beschreiben können, aber selbst ihre Zunge fühlte sich taub an, als würden Partikel von Beruhigungsmittel unsichtbar durch die Luft schweben.

Das ist natürlich ein Klischee, und du bist intelligent genug, das zu wissen. – Aber weiß ich das wirklich? Irgendwoher müssen ja die ganzen Klischees stammen. Ich meine, kann man sich ein Klischee einfach so ausdenken?

Sie drückte den Stoffpinguin, den sie in der Armbeuge hielt, und wartete.

»Guten Tag, Frau Kolka«, begrüßte sie die Dame in der grünen Bekleidung überaus freundlich. »Ich bin die Oberärztin. Gewöhnlich meldet sich die Polizei an, falls es um die Vernehmung von Patienten geht.«

»Ja, das glaube ich gern. Allerdings liebe ich das Überraschungsmoment.«

Die Oberärztin stutzte. »Wie darf ich das verstehen?«

Kolka beugte sich leicht vor, denn die Dame ging ihr gerade einmal bis zum Kinn. »Haben Sie etwas zu verbergen?«

»Nicht, dass ich wüsste …«

»Dachte ich mir. Deshalb würde ich jetzt gern nach Lilly sehen.«

»Folgen Sie mir!« Die Sprechweise der Oberärztin nahm einen Grad an Strenge zu. »Ich nehme an, Sie haben die fachliche Qualifizierung im Gespräch mit traumatisierten Kindern.«

»Ich habe fünfzehn Jahre lang an meinem Sohn geübt. Nicht dass er traumatisiert wäre, aber er lebt gewissermaßen auch in seiner eigenen Welt, aus der ich ihn hin und wieder herausholen muss.« Kolka lächelte die Ärztin an. »Nennen Sie mich Annegret.«

Vor einem Zimmer stoppten beide. Die Ärztin sah Kolka durchdringend an und Kolka erkannte eine Reife in dem Gesicht, die gar nicht zu dem kindlichen Körperbau passte.

»Nun gut, Annegret, aber drängen Sie das Kind zu nichts. Reagieren Sie auf das, was Lilly tut. Ich habe eben nach ihr gesehen. Bisher hat sie noch immer nicht gesprochen. Außerdem hat sie ihr Frühstück nicht angerührt. Sie muss vor Hunger fast umkommen, aber ihr Geist registriert das nicht. Wie lange war sie gleich in diesem Kanalsystem?«

»Etwa vierundzwanzig Stunden.«

»Mein Gott!« Es klang aufrichtig. »Hoffentlich finden Sie einen Zugang zu dem Kind.«

Kolka wedelte mit dem Pinguin herum. »Ist der hier okay?«

»Ich glaube, Ihr schwarz-weißer Partner ist ein guter Zuhörer.«

Begleitet von dieser Ermutigung betrat Kolka das Zimmer.

Lilly saß auf dem Fensterbrett. Sie stierte jedoch nicht durch die Scheibe, sondern schien den Schließriegel zu fixieren. Als wollte sie das Fenster mit bloßer Willenskraft öffnen.

Das Klinikhemd, welches sie trug, war etwas zu groß, wodurch es ihre Füße hinter einem Stofffaltengebilde verbarg.

»Hallo Lilly«, fing Kolka behutsam an.

Keinerlei Regung. Lilly wirkte, als hätte sie die Welt, um sich herum vergessen.

»Ich bin es, Anne! Wir kennen uns.« Erst nach einigem Abwarten verließ Kolka den Platz an der Tür und trat langsam auf sie zu. Längst hatte sie die beiden Kuscheltiere gesehen, die lieblos neben dem Bett lagen. Ein Elefant und ein Flamingo.

So viel zum Thema: Plüschtiere funktionieren immer.

Fast geräuschlos schob sie einen Stuhl am Bett vorbei und setzte den Pinguin darauf. »Das ist mein Kollege«, redete Kolka weiter, während sie einen Schritt zurücksetzte. »Leider habe ich seinen Namen vergessen. Weißt du, wie er heißt?«

Lilly gab keine Antwort, allerdings hatte Kolka den Eindruck, ihr Kinn hätte sich eine Winzigkeit bewegt.

»Mein Kollege würde sich gern mit dir unterhalten, Lilly. Ich muss dich aber warnen, er ist ziemlich schüchtern. Vielleicht solltest du ihn zuerst ansprechen.«

Kolka hoffte, dass sich der letzte Satz im Zimmer ausbreitete und bis zu Lillys Seele durchdrang. Deshalb wartete sie ab, was passierte.

Minutenlang.

Kolka stand still und zählte unterdessen die Fugen der Fliesen und Lilly saß auf dem Fensterbrett.

Plötzlich erhob Lilly ganz schwach ihre Stimme und wisperte: »Er heißt Skipper.«

»Skipper?«, flüsterte nun auch Kolka.

Lilly bejahte zögerlich.

Wie der Boss-Pinguin aus den Madagaskar-Filmen? Wow, hätte nie geglaubt, dass sich mein Trickfilmwissen mal als nützlich herausstellt.

Kolka schmunzelte. »Klar, Skipper, so heißt er ganz gewiss.«

»Wie lange darf Skipper bei mir bleiben?«

»Oh, du kennst ihn ja, er kann manchmal ziemlich dickköpfig sein. Wenn du es richtig anstellst, bleibt er die ganze Nacht bei dir.«

»Weißt du, wo meine Eltern sind?«, fragte sie den Pinguin. »Haben sie es aus dem bitterkalten Raum geschafft?«

»Als ich dich fand, waren deine Mutter und dein Vater nicht mehr da. Wir suchen nach ihnen.«

»Mein Vater war nicht in dem Raum. Zuerst war er mit im Auto. Da hat er gesagt, es wird alles gut. Danach war er verschwunden.«

»Kannst du dich an das Auto erinnern?«

Lilly schüttelte kaum merklich den Kopf. »Es war so dunkel. Die ganze Zeit war es dunkel. Und es hat überall gestunken. Nur der Mann, der mit fremden Stimmen redete, hatte eine Taschenlampe. Und der komische Mann mit den strubbeligen Haaren.«

»Willst du mir von den Männern erzählen?«

Lilly nahm ihren Blick von dem Stofftier und stierte auf den Fensterriegel. »Ich weiß nicht, kannst du schweigen, Skipper?«

Kolka hielt es für besser, nicht darauf zu antworten.

»Ich sollte lieber schweigen«, sagte Lilly nach einiger Zeit.

Blut und böser Mann
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