Kapitel 29

 

Kolka saß wie alle anderen in dem Versammlungsraum, wo nacheinander jeder dem Leiter der Sonderkommission Bericht erstattete.

»So geht das nicht weiter!« Der Erste Kriminalhauptkommissar Totner fand für die bisherigen Ergebnisse kaum positive Sätze. Zu viele Ungereimtheiten, zu wenig brauchbare Spuren und Hinweise.

Die Fälle Brandner und Brecht zeigten deutlich auf, dass man gegen einen Gegner kämpfte, der es verstand, unsichtbar zu bleiben. Ein Gegner, dessen Motive und Absichten im Dunkeln blieben.

»Ich dachte, um die beiden fehlenden Computerarbeitsplätze wollten Sie sich längst kümmern?«, ging Totner den Sachbearbeiter Einsatz brüsk an, wobei der gesamte Raum verstummte.

»Die Anträge wurden eingereicht, das Material steht bereit«, gab der Angesprochene kleinlaut Auskunft und nickte hinüber zum Mitarbeiter, der für die Sondertechnik verantwortlich war. »Aktuell gibt es personelle Probleme im Technikreferat. Derzeit arbeitet man mit Hochdruck an der elektronischen Sicherung in der Villa, in der sich Brechts Frau und Kind aufhalten. Ein Ort, der zu viele Kräfte bindet, um den Schutz von zwei Personen zu gewährleisten. Wir sollten darüber nachdenken, sie zu verlegen.«

Kolka ließ das Gespräch an sich vorüberziehen.

Toll, wir streiten über Technikkram, während da draußen Leute in Lebensgefahr schweben. Wenn sie überhaupt noch leben …

»Kümmern Sie sich um die Polizeikostennachweise und logistischen Sicherstellungen«, beendete Totner jede weitere Diskussion. »Mir schmeckt das genauso wenig wie Ihnen, aber Frau Brecht genießt ein hohes Ansehen. Solange ihr Mann verschwunden ist, bestimmt sie die Regeln. Und sie hat sich dazu entschieden, bei ihrer Freundin, dieser reichen Witwe, zu bleiben.«

Kolka beobachtete, wie sich Totner die Stirn abtupfte. Sein Hemd zeigte erste Ermüdungserscheinungen. Es hing kraftlos und verschwitzt an seinem Oberkörper. Krampfhaft überlegte sie, ob sie um Sprecherlaubnis ersuchen sollte. Totner kam ihr zuvor.

»Henry«, gab er Stark das Signal. »Fass für uns alle die bisherigen Erkenntnisse zusammen. Und bitte, verpack es so, dass ich mir Hoffnungen machen kann, diesen Albtraum baldigst beenden zu können.«

»Tut mir leid, Andreas, ich fürchte, den Gefallen kann ich dir nicht tun.« Stark war einer der wenigen, die den Soko- und Dezernatsleiter mit Vornamen anreden durften.

Stark schlurfte zu einer Tafel, wo die wichtigsten Fakten mit buntem Marker angeschrieben standen. Er zückte einen Kugelschreiber, den er zu einem Teleskopstab auseinanderzog, und klopfte mit der Spitze wie ein Oberlehrer an die entsprechenden Schaubilder. »Mit dem heutigen Tag wissen wir von sechs vermissten Personen, bei denen wir ausgehen, dass ihr Verschwinden in unmittelbarem Zusammenhang steht: die beiden Geschäftsführer Klemens Brecht und Felix Brandner, dessen Frau Sophie, der Obdachlose Luis Reich, Polizeimeister Stefan Zornitz und zuletzt der Chauffeur von CORWEX Anton Below.«

»Was ist mit der Praktikantin, die ihren Dienst nicht angetreten hat?«, kam es aus einer der mittleren Reihen. »Diese Nina Richter?«

Nina Richter. Der Zwischenruf versetzte Kolka einen Stich. Trotz der Liebesnacht mit Erik bereitete ihr die Nennung des Namens Missfallen. Gleichzeitig kämpfte sie gegen den Stutenneid an. Immerhin war die junge Frau eine Kollegin.

»Das Lagezentrum wurde bereits informiert«, antwortete Stark, wobei er Blickkontakt zu Totner suchte. »Wir sehen da keinen Zusammenhang. Vermutlich hat sie etwas in ihrem Dienstplan durcheinandergebracht. Die Sache klären wir.«

Im Raum ließ die Sache niemanden kalt. Die Emotionen schwappten hoch und entluden sich in einem Getuschel, das sich wie eine unaufhaltbare Woge von hinten nach vorn ausbreitete. Die bisherigen Ergebnisse trugen nicht zur Verbesserung der Stimmung innerhalb der Soko bei. Die Unzufriedenheit bei den Mitarbeitern konnte man deutlich im Kopfschütteln und Abwinken erkennen.

»Ruhe!«, beendete Totner das Aufbegehren. Er allein schien von Starks Auftreten angetan. Kein Wunder, immerhin standen in persona Gönner und Günstling vor dem Publikum.

»Lilly Brandner wurde gerettet«, sprach Stark weiter, als hätte es die Zwischenfrage nie gegeben. »Die Umstände sind noch nicht vollständig geklärt, aber wir gehen davon aus, dass sie ihrem Entführer entkommen ist, indem sie sich einen ganzen Tag in einem stillgelegten Abwasserkanal verkrochen hat. Selbstverständlich haben wir das Kanalsystem mit einer Sonde überprüft. Keine neuen Erkenntnisse. Nur ein alter Schacht. Sollte das Mädchen das verrostete Kanalgitter allein aufbekommen haben, gleicht das einem Wunder. Derzeit befindet sich Lilly in der Psychiatrie.« Er tippte nacheinander auf die Vermissten an der Tafel, als wollte er, dass sich jeder im Raum die Namen einprägte. Dabei war das längst geschehen. »Bisher fehlt jegliche Botschaft eines vermeintlichen Entführers. Es gibt weder Forderungen noch Anweisungen. Obwohl wir auch noch keine einzige Leiche gefunden haben, deuten die Indizien darauf hin, dass längst nicht mehr alle sechs Vermissten leben.« Jetzt hatte er die Zuhörer auf seiner Seite. Im Raum kehrte absolute Stille ein. »Auf dem Gelände des alten Schlachthofs, wo die Ruinen des Kühlhauses stehen, haben wir jede Menge Blut gefunden. Laut Laborergebnissen handelt es sich dabei um das von Felix Brandner und dessen Frau. Zudem fanden wir Brandners Geldbörse mit mehr als eintausenddreihundert Euro. Wir dürfen also davon ausgehen, dass es unser Täter nicht auf Geld abgesehen hat. Weiterhin konnten wir einen frisch ausgeschlagenen Zahn mit Blutanhaftungen und Speichel als Spur Nummer Sechs sichern. Dieser wurde eindeutig Luis Reich zugeordnet. Aber eine in unmittelbarer Nähe des Zahns gesicherte Schuheindruckspur stammt definitiv nicht von Reich. Demnach muss also ein Unbekannter etwa zur selben Zeit am selben Ort wie der Obdachlose gewesen sein. Wir fanden die Spuren an einem senkrechten Kanalschacht, der zu dem System gehört, in dem sich Lilly mehrere Stunden bewegt hat. Möglicherweise hat Lilly den Täter erkannt. Leider …«

»Hat sie nicht«, unterbrach ihn Kolka, indem sie lautstark dazwischenrief und zusätzlich vom Stuhl aufsprang.

»Annegret, was soll das?«

»Ich will das hören«, entschied Totner. »Auch wenn Kollegin Kolka, noch nicht so lange in der Soko ist, war sie es, die Lilly gefunden hat. Also bitte, sprechen Sie!« Er ließ seine Handfläche in der altbekannten Weise nach oben aufschnappen, als servierte er ein Tablett mit den besten Empfehlungen. Diese Geste kam ihm wohl großzügig vor.

»Ich habe mit Lilly gesprochen. Und sie hat mir geantwortet.«

»Warum wurde ich darüber nicht informiert?«, empörte sich Stark und ließ einen Tafelmaler in seiner Brusttasche verschwinden. Die Kappe hielt er noch in der anderen Hand.

Vielleicht, weil ich nicht wollte, dass du meine Ergebnisse für deine ausgibst. Ja, Henry, auch ich lerne dazu.

»Das tue ich hiermit.« Sie drückte sich zwischen den Stuhllehnen und Knien vorbei und ging nach vorn. »Lilly und ihre Eltern wurden entführt. So viel steht fest. Nach eigener Aussage hat das Kind den Entführer nie gesehen. Dennoch ist sie sich sicher, dass unser Täter ein Mann ist.«

»Sie hat seine Stimme gehört?«, fragte Totner.

»Sie sprach immerzu vom bösen Mann, der seine Stimme verstellen konnte. Angeblich hätte er die Stimme ihres Vaters nachgeahmt, als sie da unten in dem Kanal umherkroch. Vermutlich klang die Stimme des Unbekannten verzerrt aufgrund des Echos im Rohrsystem. Laut ihren Schilderungen hat ein Mann mit zerzaustem Haar an der Schachtöffnung zu ihr heruntergeblickt. Angeblich wollte er sie retten. Zweimal rief er in den Schacht hinein, dann veränderte er seine Stimme. Ich denke, es waren zwei Männer, der erste davon Luis Reich, der ihr helfen wollte. Der andere, der vermutlich später hinzukam, könnte unser Täter gewesen sein. Lilly erzählte mir von der Entführung. Man hat sie in ein Fahrzeug gesperrt, da waren sie zu viert. Sie, ihre beiden Eltern und der Fahrer.«

Totner gab Stark einen Wink, die Sache festzuhalten und überprüfen zu lassen. Dann sagte er leidenschaftslos: »Wenigstens etwas.«

»Da wäre noch eine Sache.«

Das Flüstern und das Gemurmel der Anwesenden verstummten augenblicklich. Sie spielte ihre Trumpfkarte aus, indem sie ein Foto aus der Tasche zog und es hochhielt.

»Dieses Bild zeigt Lilly Brandner im Alter von vier Jahren. Zuerst war ich der Annahme, es handle sich um Brechts Tochter, denn ich fand das Foto in dessen Büro. Allerdings bestätigten mir sowohl seine Frau als auch seine Tochter, dass es sich eindeutig um Lilly handelt. Das Foto von Lilly Brandner lag unter Klemens Brechts Schreibtisch. Würde irgendjemand in diesem Raum ein Bild von einem fremden Kind bei sich haben wollen?«

Niemand sagte etwas. Hier und da schüttelten die Kollegen bedächtig die Köpfe.

»Interessant ist das, was auf der Rückseite der Aufnahme steht.« Sie ließ eine Pause entstehen, um die Erwartungen der Anwesenden ins Unermessliche zu treiben und den kleinen Triumph auszukosten.

Unruhig scharrte Totner mit den Schuhen. Stark machte ein paar Schritte auf sie zu. Die Sitzenden reckten die Hälse, als könnten sie die winzigen Buchstaben auf dem Foto lesen.

Als die Spannung bis zum Zerreißen knisterte, sagte sie nur einen Satz: »Sie ist Beute.«

Nach einem Moment der Stille räusperte sich Stark. »Was soll denn das heißen?«

»Dieselbe Frage habe ich Frau Brecht auch gestellt.«

Blut und böser Mann
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