Kapitel 56
Donner wollte nicht glauben, dass ein alter Zeitungsartikel ihre verbliebene Hoffnung war. Hoffentlich funktionierte Annes siebenter Sinn!
Als sie das umzäunte Gelände fernab des Ortsausgangsschildes erreichten, warf die Düsternis bereits ihr Fangnetz über die Landschaft. Der Wald wurde zur Wildnis. Allein das Rauschen der Autobahn in der Ferne erinnerte Donner daran, dass es noch Zivilisation gab. Im 11. Jahrhundert hatten sich königliche Wolfsjäger in diesem Teil der Region niedergelassen, später war von hier aus das Land besiedelt worden. Lager verwandelten sich in Dörfer und Dörfer in Städte. Wie passend! Anne hatte ihm auf der Herfahrt die russische Legende vom Weißen Wolf erzählt.
»Du siehst unglücklich aus«, sagte er, während er vom Beifahrersitz aus beobachtete, wie nervös sie den Wagen lenkte.
»Das liegt an dir. Ich stelle mir gerade vor, wie man mich auf den Posten der Kriminalpolizeilichen Erstkontaktstelle abschiebt.«
Er knurrte und fixierte die Fahrbahnmarkierung am rechten Rand. »Es ist, als würde man deine Seele in einen Flipperautomaten sperren: Überall blinkt und klingelt es, doch du weißt, dass du immer die doofe Kugel sein wirst.«
»Deswegen sag ich es ja! Damit du verstehst, wie ich mich gerade fühle!«
Beide schwiegen und sie stellte das Fahrzeug auf einem Seitenweg ab. Rechts und links bogen sich Gestrüppausläufer gegen die Fensterscheiben. Ohne Rücksicht auf Verluste stemmte Donner die Beifahrertür auf. Bereits bei der Anfahrt hatten mehrfach Zweige geräuschvoll am Lack gekratzt. Ununterbrochen hatte Anne geflucht.
»Beim nächsten Mal nehmen wir deine alte Karre.«
»Was heißt alt? Andere würden Klassiker dazu sagen. Hast du deine Waffe dabei?«
»Vergiss es! Die behalte ich diesmal bei mir.«
Wusste ich es doch, dass du nachtragend bist …
Sie liefen gut zweihundert Meter, dann fanden sie ein abgeschlossenes Tor aus Stahlstreben und Maschendraht. Das Eisen rostete bereits. Wiederum zeugten die Spuren in Gras und Erde davon, dass die beiden Flügel in letzter Zeit geöffnet worden waren.
»Selbst mit einer Armee bräuchten wir für das Gelände eine halbe Woche.«
»Pech für uns!« Sie rückte sich die Jeans zurecht, schloss die Jacke, steckte eine Fußspitze in eine Zaunmasche und holte Schwung. »Mehr Leute bekommen wir erst, wenn wir was entdecken.«
»Du meinst, sobald einem von uns beiden was zustößt.« Er griff ihr an den Hintern, um ihr beim Übersteigen des Hindernisses zu helfen.
»Finger weg!«, kam es prompt. »Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du mich wie einen One-Night-Stand behandelt hast!«
Er unterließ eine Bemerkung und rätselte vielmehr darüber, ob das Eisenkonstrukt seinem Gewicht standhalten würde. Auf dem Weg hierher hatte er keine Stelle entdeckt, um das Grundstück zu betreten. Dafür hatte der Wildwuchs der vergangenen Jahrzehnte gesorgt. Ein Wunder, dass die Zufahrt noch frei stand.
Ein sehr beunruhigendes Wunder.
Mit ausreichend Anlauf wuchtete er seinen Körper über das Tor. Annes Miene verriet ihm, wie wenig sie sein Turntalent beeindruckte. Er rieb sich den Dreck von den Handflächen und hustete sich die Anstrengung von der Lunge.
»Und hier soll Brandners Vater ums Leben gekommen sein?«
Sie nickte und suchte mit ihrem Blick die Gegend ab. »Bei einer Fasanenjagd. Auf diesem Terrain hat man die Jungtiere den Sommer über ausgesetzt. Sein Sohn war an dem Wintertag dabei gewesen, als es passierte.«
»Warum habt ihr das Grundstück nicht von Anfang an in die Ermittlungen einbezogen?«
»Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob das Gelände überhaupt CORWEX gehört. Und für eine Überprüfung ist es jetzt sowieso zu spät. Du hast ja mitbekommen, was Stark von meinem Anruf gehalten hat.«
Während sie tuschelten, liefen sie einen Pfad entlang, der sich geradezu unendlich an Birken, Fichten und dornigen Brombeersträuchern hindurchschlängelte.
»Ich kann es ihm nicht verübeln. Wir sind nur hier, weil ich einem Bauchgefühl folge. Wegen eines vergilbten Zeitungsausschnitts, der von einem Toten berichtet.«
Wie zur Bestätigung donnerte es über dem Wald. Beschützend zog er Kolka an sich. Der Hall eines abgefeuerten Schusses hatte beide aufgeschreckt.
»Würdest du mich bitte loslassen?«
Das tat er. Dann sah er sich nochmals um und setzte hinzu: »Ich denke, dein Bauchgefühl hat dich nicht belogen.«
Sie löste sich aus seiner Reichweite und holte das Handy hervor. »Besser, ich fordere Unterstützung an.«
»Tu das, aber ich fürchte, sie wird zu spät eintreffen.«
Allein für die Herfahrt hatten sie fast vierzig Minuten gebraucht. Ringsum gab es nur Wiese, Äcker, Bäume und den endlosen Himmel. Einen Himmel, der sich innerhalb der angebrochenen Stunde finster färben würde. »Erinnere dich an Lilly! Man hat sie nicht ohne Grund zweimal entführt.«
»Was denkst du?«
»Ich denke, dass wir dem Killer dicht auf der Spur sind.« Damit ließ er sie stehen und rannte geduckt weiter.
»Scheiße!« Sie zog ihre Waffe aus dem Holster und folgte ihm.
Er warf einen Blick nach hinten. »Und ich würde mich sicherer fühlen, wenn du mit dem Ding nicht auf meine Hacken zielst.«
»Hey, ich habe die Schulübung beim Schießtest in Bestzeit bestanden.«
»Was für ein Glück! Der weibliche John Wayne ist geboren, um mir den Arsch zu retten.«
Während er schneller als sonst lief, versuchte er das Ziehen in seinem leicht steifen linken Knie durch Nachdenken auszublenden. Es klappte nur bedingt. Er wusste nicht, mit welchem Gegner sie es zu tun hatten. Er wusste nur, dass er nicht noch so eine Überraschung wie die Explosion in Belows Wohnung erleben wollte. Und er wusste, dass heute Abend möglicherweise Menschen sterben würden. Das verriet ihm sein Instinkt für Tod. Sein ihm angeborenes Talent. Der Vorgeschmack lag ihm süßlich-verderbend im Mund. Selbst der belebende Duft der Nadelbäume konnte daran nichts ändern.
Endlos folgten sie dem Trampelpfad. Donner verspürte Seitenstechen, ließ es sich aber nicht anmerken, sondern biss die Zähne aufeinander. Zuletzt ergab er sich seinem schlechten Fitnesszustand und hörte auf zu rennen. Das Gestrüpp wurde dichter, peitschte gegen die Bekleidung und riss ihm Wunden in die offen liegenden Hautstellen. Eine sonderbare Unruhe herrschte über den Baumwipfeln. Ihre Spitzen zitterten und hoch oben malten die Wolken ein Bild des Chaos.
Wie die Gemälde in der Kunstgalerie.
Dazu erschufen die hektischen Schreie von ein paar Vögeln Misstöne, die Gefahr verkündeten.
Auch unten regierte die Unruhe. Über dem Boden lag das Summen von Insekten. Es klang wie Getuschel, als fragten die Kleinstlebewesen, wer da in ihr verlassenes Reich eindrang. Und diese Laute beinhalteten eine Warnung.
Donner vergewisserte sich, dass Anne noch hinter ihm lief. Beide hatten aufgehört zu flüstern. Schließlich entdeckten sie das Gebäude. Es war ein Stall, so düster, wie man sich eine heruntergekommene Legebatterie vorstellte, in der man fernab fremder Augen Hühner auf grausame Art aufzog und schlachtete. Vor der einst weißen Front lag abgeplatzter Zement von der Fassade. Statt Fenstern gab es kleine viereckige Löcher. Vermutlich Teil der Gebäudebelüftung. Die Plastikdachrinne hing gleich an mehreren Stellen zersplittert herunter.
Schnell duckten sie sich zur Erde. Eine Zeit lang beobachteten sie die Gegend. Für Donner war es eindeutig zu ruhig.
»Ich würde mir ein Ohr abschneiden, um zu erfahren, was dort drin los ist«, meldete Anne Neugier an.
Den Ohrenwitz fand er keineswegs lustig. Sie bemerkte seinen düsteren Seitenblick nicht einmal.
»Gib mir deine Waffe!«, forderte er.
»Kauf dir selbst eine.«
»Wenn wir beide gehen, sind wir leichte Ziele für einen Hinterhalt, also gib mir die Knarre!« Er hielt die Handfläche auf.
Doch sie legte nichts hinein, sondern zeigte ihm mit dem Pistolenlauf einen Vogel. »Ich gehe und du gibst mir Rückendeckung.«
»Und wie stellst du dir das vor? Soll ich Kiefernzapfen werfen?«
»Das sind Fichtenzapfen. Erkennt man an der länglichen Form.«
Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Hast du ein Taschenmesser einstecken? Oder wenigstens eine Nagelschere? Irgendetwas, womit man jemandem wehtun kann?«
Als sie verneinte, griff er sich einen abgebrochenen Stock, der spitz und stabil genug aussah, um ihn einem Angreifer im Notfall in den Bauch zu rammen.
»Was ist das?«, flüsterte er und zeigte hinter sie.
Sie drehte sich um. Bevor sie das Ablenkungsmanöver durchschaut hatte, trat er geduckt an der Deckung vorbei. Ihre leisen Beschimpfungen begleiteten ihn. Eine halbe Minute danach betrat er die Hütte.
Als Erstes fiel ihm die schwarze Holzdeckenverkleidung auf. Der Rest des Gebäudeinneren bestand aus Ziegelsteinen und Holzplatten. Donner schätzte das Alter auf gut vierzig Jahre. Es gab nur einen einzigen langen Flur, in dem es nach altem, feuchtem Mauerwerk roch. Von dort gingen in einer Reihe Türen ab. Eins bis vier, las er die im Holz eingeritzten Zahlen, als er daran vorbeischritt.
Ein vorsichtiges Prüfen an den Schließriegeln verriet Donner, dass die dahinterliegenden Räume verschlossen waren. Leise schlich er weiter.
Eine fünfte Tür stand offen. Und aus der dortigen Kammer drang ein Schnaufen, als ginge jemand ganz langsam zugrunde.