Kapitel 21
Damals (Sechs Jahre zuvor)
Schneegestöber.
Es flüsterte. Es rief. Es täuschte die Sinne.
Das Heulen des ewigen Wolfes konnte man in den Wintermonaten besonders laut hören. Die Leute in Oblast Wologda erzählten sich manchmal Schauergeschichten. Geschichten, in denen Menschen verschwanden. Geschichten von einem weißen Wolf, der in der Wildnis lauerte. Man nannte ihn Schneegestöber. Kalt und unerbittlich.
Ein Jäger, der keine Spuren hinterließ.
Weit oben im Norden dieser Gegend betrug die durchschnittliche Bevölkerungsdichte gerade einmal vier Einwohner pro Quadratkilometer. Zu fünft und glücklich saßen sie in der winzigen Hütte, deren Strohdach sie vor dem Wetter schützte. Die Hütte, in der ein Raum zum Schlafen und Leben diente.
Kurz bevor Jegor Tarassow das Nachtgebet mit seiner Familie sprach, horchte er auf ein Summen. Für einen Moment hatte es sich angehört wie Motorenlärm in der Ferne. Er wertete es als Streich des Windes. Wenn der Westwind durch die uralten Kiefern jagte, hörte es sich manchmal wie das Brummen einer Maschine an. Oder wie ein Knurren von einem riesigen Raubtier.
»Was ist?«, fragte sein jüngster Sohn.
»Nichts«, beruhigte Tarassow ihn und zog die Decke über die Schultern des Neunjährigen. »Komm, falte deine Hände. Wir wollen darum beten, dass dein Vater morgen einen guten Preis für die Hasenfelle bekommt.«
Aus dem Kamin qualmte es heftiger als sonst in den Innenraum. Das Nadelholz brannte schlecht. Die Zugwirkung schwankte wie das Wetter oder die Lebensbedingungen in dieser Einöde. Aber die Familie hatte gelernt, zufrieden zu sein. Tarassows Frau hatte eine Suppe aus Ziegenfleisch gekocht. Nun strich sie ihm wohltuend über den zerschundenen Rücken.
Seit zwei Jahren schmerzte ihm die Wirbelsäule. Jeden Abend, wenn er sich vor das Bett seines Sohnes beugte, drückten und brannten ihm die Bandscheiben. Tarassow verheimlichte sein Leiden, so gut es ging. Sein Sohn sollte mit Stolz zu seinem Vater aufsehen. Er sollte nicht denken, dass sein Vater allmählich alt wurde.
Tarassow war noch keine vierzig, aber hier oben zwischen Wind und Schnee alterte man schneller als die Menschen im Süden oder in den Städten. In diesem Teil von Russland bekam jedoch niemand mit, wenn wieder jemand starb. Niemand außer den engsten Angehörigen. Einige Jahre hatte Tarassow darüber nachgedacht, einfach wegzugehen, den Ort seiner Geburt zu verlassen. Aber er war ein Fallensteller wie sein Vater und sein Großvater vor ihm. Er taugte nur zum Fallenstellen. Das war nichts Besonderes, aber wenigstens ernährte sein Talent die Familie und sorgte dafür, dass die beiden jüngsten Kinder zum Unterricht ins Dorfzentrum gehen konnten. Auch wenn die fünfzehnjährige Tochter ständig fragte, warum sie lesen und rechnen lernen sollte, wenn sie ohnehin nur den Haushalt für ihren späteren Mann führen würde.
Sie hatte damit nicht unrecht. Das Leben an diesem Ort war von Einsamkeit und Verzicht geprägt. Die nächsten Häuser waren einen halben Kilometer entfernt. In dieser Gegend hatte fast niemand ein Fahrzeug. Und wenn, brauchte man einen Traktor oder einen Geländewagen, um dem Schnee trotzen zu können. Aber um diese Uhrzeit fuhr keine Menschenseele mehr mit einem Fahrzeug.
»Was war das?«, fragte seine Tochter plötzlich und richtete sich in ihrem Bett auf.
»Nur das Gebälk«, antwortete die Mutter.
»Nein, es kam von draußen«, widersprach die Fünfzehnjährige, wie sie es oft tat.
Tarassow blieb stumm, schaute zum ältesten Sohn, der von seinem Stuhl aufstand. Offenbar hatte der Achtzehnjährige das Scheppern auch vernommen. Zu hell und zu blechern für Holzbalken oder Bretter. Es klang wie das Werfen von Autotüren. Vier oder mehr.
Tarassow erhob sich. Seine Wirbel knackten. Er straffte die Hosenträger über der Brust und ging zu den Stiefeln mit dem Fellsaum.
»Wo willst du hin?«, fragte seine Frau mit einem Zittern in der Stimme.
»Ich will nur mal nachsehen, vielleicht hat der Wind wieder die Schuppentür aufgerissen. Ich wollte den Riegel längst reparieren.« Dabei hatte er die Schrauben am Schloss vor Tagen nachgezogen. Selbst der heftigste Windstoß könnte den Schuppen nicht aufbekommen. Außerdem befand sich die Tür im Osten, während der Wind eindeutig von Westen wehte.
Tarassow stieg in die Stiefel. Eine kleine Weile verharrte seine Hand reglos auf dem Türriegel.
»Soll ich mitgehen?«, fragte der Achtzehnjährige.
Tarassow musste als Hausherr auftreten, das war für ihn Ermutigung genug, allein nachzusehen. Vielleicht hatte sich doch jemand in diese Gegend verirrt. Das passierte hin und wieder, wenn der Schneesturm die Sicht auf der Straße am Fluss unmöglich machte.
Also trat Tarassow ohne Jacke in die Winterkälte. Mit einer Hand schirmte er die Augen vor den eisigen Körner ab. Das Wetter zerrte an Stoff und Haaren. Er versuchte etwas zu erkennen und entfernte sich ein Stück weit vom Haus.
Nichts.
Bis auf das Heulen des uralten Windes, der das Weiß vom Boden aufwirbelte und wie mit einem Nebelvorhang alles verhüllte, gab es nichts zu entdecken. Selbst die Baumspitzen verloren sich irgendwo im grauschwarzen Himmel. Der Schnee regierte überall und klebte bald an seiner Brust, seinen Oberschenkeln und seinen Wangen.
Gerade als sich Tarassow umdrehte, um zurückzukehren und sich am Kaminfeuer aufzuwärmen, sah er sie: fünf Schatten, die sich von mehreren Seiten näherten. Wie Wölfe bei der Jagd.
Schneegestöber.
Der ewige Wolf kam mit heimtückischer List und zeigte seine Reißzähne.
Tarassow stolperte durch den Schnee zurück zum Haus, versuchte sich zu retten. Während er auf allen vieren vorwärtskrabbelte, wusste er, dass die Gerüchte und die Schauergeschichten der Einwohner wahr waren. Es gab S65.
Niemals hatte er ernsthaft geglaubt, dass die Gruppe einmal seine Hütte aufsuchen würde.
Bevor er die Haustür verriegeln konnte, war es zu spät.