Kapitel 53
Heute
Felix Brandner war nicht der Vater von Lilly.
Während Kolka dem Rufzeichen im Telefonhörer lauschte, las sie immer und immer wieder das Abstammungsgutachten durch. Wie gebannt starrte sie auf das Blatt, welches sie in Rammlers Unterlagen gefunden hatte. Vermutlich hatte der BKA-Mann heimlich einen Vaterschaftstest in Auftrag gegeben. Körperspuren der beiden Probanden hatten die Kriminaltechniker im Laufe der Ermittlungen reichlich gesichert.
Interessant, mit welchen Vollmachten so ein Sonderermittler ausgestattet ist.
Mit den entsprechenden Kontakten und unter dem Deckmantel des Bundeskriminalamtes bestanden für sie keine Zweifel, dass Rammler Wege kannte, um einen solchen illegalen Test durchführen zu lassen. Das Erschreckende war jedoch weniger die ohne richterliche Anordnung durchgeführte DNA-Untersuchung, sondern vielmehr, dass die DNA-Sequenzen beider Probanden keinerlei Übereinstimmung zeigten. Wenn Felix Brandner nichts davon wusste, hatte seine Frau ihm ein Kuckuckskind untergeschoben. Und allmählich verfestigte sich in Kolka der Verdacht, wer Lillys Erzeuger war …
»Lippner«, erschallte es nach unzähligen Ruftönen im Hörer.
»Hier ist Kriminaloberkommissarin Kolka«, meldete sie sich gegenüber der Angestellten von CORWEX.
»Sie bringen bestimmt Neuigkeiten von Felix Brandner! Wann wird er die Geschäfte wieder übernehmen können?«
»Leider kann ich dazu keine Aussage treffen. Mir geht es um etwas anderes …«
Der daraufhin abgegebene Unmutslaut warnte Kolka, dass sie bei der Befragung behutsam vorgehen musste, um die ohnehin wankelmütige Assistentin nicht zu verärgern.
»Sie arbeiten schon sehr lange bei CORWEX, Frau Lippner …«
»Schon während Herr Brandner Senior die Firma leitete.«
»Genau deswegen wende ich mich an Sie, immerhin kennt wohl niemand das Unternehmen besser – abgesehen von Herrn Brecht und Herrn Brandner selbstverständlich.«
Zustimmendes Gemurmel drang aus dem Telefon.
»Wie haben sich die beiden eigentlich kennengelernt?«
»Ach, Herr Brandner und Herr Brecht kannten sich bereits aus Jugendzeiten. Dank Herrn Brechts Engagement in einer kommunalen Parteiorganisation fanden Herr Brandner und seine spätere Frau zueinander. Na ja, ich schweife ab … Warum interessiert Sie das?«
»Und als Herr Brandner die Firma von seinem Vater übernommen hat, stellte er Brecht den Posten des zweiten Geschäftsführers in Aussicht, nicht wahr?«, umging Kolka die Frage von Lippner mit einer Gegenfrage. Sie vertraute darauf, dass die Assistentin noch immer unter der Einwirkung erschöpfender Überstunden stand. Zermürbt und unkonzentriert, ähnlich der letzten Begegnung. »Ich meine, Politik und ein Unternehmen wie CORWEX! Das ist quasi eine Win-win-Strategie. Das finde ich schon clever.«
Aufpassen, Anne! Drück nicht zu sehr auf die Tube.
»Das versteht sich von selbst«, erwiderte Lippner. Der Trick schien zu funktionieren. »Herr Brandner hat gegenüber der Öffentlichkeit nie einen Hehl daraus gemacht, dass CORWEX politisch engagiert ist. Als Waffenhersteller braucht man die Rückendeckung der Volksvertreter. Üppige Parteispenden als Gegenleistung und kleines Übel. Die Einstellung von Herrn Brecht war also nur eine logische Konsequenz.« Sie stöhnte schwer. »Herr Brandner hat das Temperament seines Vaters geerbt, aber ich fürchte, für Zahlen besitzt er nur halb so viel Talent. Diese Lücke wurde durch Herrn Brecht geschlossen, der ein ausgezeichneter Rechner und Stratege ist. Die beiden ergänzen sich wie Brüder. Herr Brandner liebt es, im Fokus zu stehen, und vor allem Interviewpartner schätzen ihn für seine klaren Worte. Ich beneide ihn um seine Redekunst. Überdies ist es sein Charisma, welches Geschäftspartner geradezu fesselt. Herr Brandner hat ein Händchen, um andere für seine Sache zu gewinnen. So gesehen ist er wahrscheinlich talentierter, als sein Vater es war.«
»Bei den Recherchen vergleichen wir derzeit verstärkt die Familienvergangenheit der beiden Unternehmer«, log Kolka. »Wie haben Herr Brandner und seine Frau sich noch kennengelernt?«
»Hören Sie«, sie sprach jetzt leiser als zuvor. »Das sind Dinge, die eigentlich der Diskretion unterliegen, und ich frage mich, wie Ihnen das bei Ihren Ermittlungen helfen soll. Aber ich möchte Ihnen antworten, so von Frau zu Frau. Herr Brecht und Frau Brandner hatten, lange bevor Herr Brandner ins Spiel kam, eine Beziehung. Das Verhältnis hielt nicht lange, zu viele Differenzen, Sie wissen schon … Als Frau Brandner und ihr Mann heirateten, war sie es, die den Anstoß gab, Brecht in die Firma zu holen. Wir beide sind erwachsen, um zu verstehen, wie das Leben spielt: Eine Hand wäscht die andere, solange alles sauber abläuft.«
»Da stimme ich Ihnen vollkommen zu! Als jemand, der in einem Beruf drinsteckt, in dem es oft schmutzig zugeht, kann man für desinfizierte Hände nicht dankbar genug sein.«
»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden …«
»Bitte, Frau Lippner! Eine letzte Frage: Herr Brandner ist in der Vergangenheit einmal pro Jahr nach Russland auf Geschäftsreise geflogen. Vor sechs Jahren begleitete ihn Herr Brecht. Können Sie mir sagen, um was für Geschäftsbeziehungen es da ging?«
Lippner zögerte die Antwort spürbar heraus. Kolka verstand, dass sie ungern darüber reden wollte. Vielleicht hatte sie die Frage zu kühn gestellt. Dann könnte sie sich die Auskunft in den Wind schreiben.
»Diese Reisen hatten Tradition, bereits zu Lebzeiten von Brandners Vater. Glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht, ich habe keine Ahnung, um was für eine Geschäftsbeziehung es sich dabei handelt. Schon der Senior Chef hat ein großes Geheimnis daraus gemacht. Ich habe nie danach gefragt, denn manche Dinge sollten geheim bleiben. Ich kann Ihnen nur versichern, dass Herr Felix Brandner jedes Mal inspiriert und voller Motivation nach Deutschland zurückkehrte.«
»Und Herr Brecht? Kehrte der damals auch inspiriert zurück?«