Kapitel 52

 

Damals (Sechs Jahre zuvor)

 

Seinen Namen hatte der Mann beinahe vergessen.

Seinen richtigen Namen.

Während der Zeit beim KGB hatten ihn die Genossen mit dem Decknamen Lunov angesprochen. Darüber hinaus hatte er so oft seine Identität wechseln müssen, dass er sich gar nicht mehr an jede einzelne erinnerte. Das machte für ihn die perfekte Identität aus: Erinnerungslos.

Er wusste, wie alt er war. Vierundfünfzig. Ein gutes Alter für einen Mann. Man darf alles vergessen, aber niemals seine Eltern und niemals sein tatsächliches Alter, hatte ein Oberst einst gesagt.

Lunov hatte sich daran gehalten, auch wenn er an manchen Tagen gut und gerne als Fünfundvierzigjähriger durchging. Außer bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. In der Kälte sahen Menschen immer wie scheintot aus. Da spielte das Alter keinerlei Rolle.

Nun stand er hier in der Kälte, mitten in der Wildnis, wo nicht der Mensch, sondern die Natur als Alleinherrscherin den Ton angab.

Der Mann hasste zu viel Natur. In der Natur fühlte er sich wahrhaft klein. Moskau, die riesige Stadt aus Zwiebeltürmen, hasste er auch. Allerdings aus einem anderen Grund. Die Stadt bestand aus einem Goldanstrich. Sobald man an der Oberfläche kratzte, kam darunter die verderbende, schimmlige Substanz zum Vorschein. Unterm Strich unterschied sich Moskau nicht von der erbärmlichen Hütte, an deren Holztür Lunov in dem Moment klopfte.

Niemand bat ihn herein. Dem ewigen Wind, der im Norden durch Oblast Wologda heulte, hielt keine Stimme stand. Erst recht nicht die von dem steinalten Dorfältesten, der im Inneren hauste.

Lunov stemmte die Schulter gegen die Tür. Sie gab nach. Die selbstgewickelten Kerzen im Raum spendeten nur mageres Licht. Es reichte gerade so, dass er im hintersten Winkel einen Schatten bemerkte, der vor und zurück wippte. Das Holz eines Schaukelstuhls knarrte. Auch die Fensterläden klapperten, als begehrten die Eisgeister, die man in dieser Gegend anbetete, Einlass.

Lunov klopfte sich die Stiefel ab und zog die Fellhandschuhe aus. Der Reißverschluss surrte, als er seine Jacke öffnete. Er hängte sie über einen der schrägen Balken, die das Reisigdach hielten. Als er das getan hatte, trat er näher an den Alten heran. Aus der Dunkelheit des Zimmers leuchteten ihm die weisesten Augen entgegen, die er jemals gesehen hatte – und Lunov war in der ganzen Welt herumgekommen. Selbst in Tibet hatte er eine derartige Lebensreife niemals verspürt.

Der Alte hatte keinen richtigen Namen, ebenso wie Lunov. Im Dorf nannten sie das Oberhaupt nur Gora, was Berg bedeutete.

Die Lippen des Alten saugten an einer Tabakspfeife. Glut glomm auf. Der Geruch eines scharfen Krauts verteilte sich im Zimmer. Weißer Rauch stieg empor. Der Alte hustete. Er hustete so sehr, dass Lunov dachte, der Berg könnte jeden Augenblick wie ein Vulkan explodieren. Abgesehen vom Husten ging von dem Alten keine Gefahr aus, höchstens in Form von Wissen. Wissen, auf das es Lunov abgesehen hatte.

»Man schickt mich, um den Weißen Wolf zu finden«, begann Lunov das Gespräch.

Er trat näher, während der Alte seelenruhig an seiner Pfeife zog und die Hand nach einem Becher Tee ausstreckte. Zumindest vermutete Lunov, dass es sich um Tee handelte. Das Getränk dampfte verführerisch.

Endlich konnte Lunov das Gesicht erkennen. Solange er das Gesicht eines Gegenübers nicht sah, fühlte er sich stets unwohl. Der Berg sah eher dürr wie ein verknöcherter Stock aus und die Schultern hingen so erbärmlich herab wie das schlohweiße Haar. Nur die großen Hände ließen erahnen, welch riesiger Mann er einst gewesen sein musste.

Lunov wartete.

Gefühlt verging mehr als eine Minute.

»Niemand sieht den Weißen Wolf und bleibt am Leben«, kamen schleifend die Worte aus dem Mund des Alten. »Der Weiße Wolf ist überall und nirgendwo.«

»Der Weiße Wolf war in eurem Dorf. Er hat sich eine Familie geholt. Die von Tarassow.«

Etwas Trauriges legte sich in den Blick des Alten. Er nippte am Becher und stellte ihn zitternd ab. Den großen Händen fehlte es an Kraft. »Für die Familie Tarassow kommt jede Hilfe zu spät. Was schert uns der Weiße Wolf? Der Weiße Wolf kehrt niemals dorthin zurück, wo er Beute gefunden hat.«

»Es gibt unzählige andere Familien. Mehr Beute.«

Der Berg holte tief Luft. Dabei kratzte er mit den langen, brüchigen Fingernägeln der freien Hand über die Holzarmlehne. Das Atmen strengte ihn sichtlich an. »Sie sind ein großer, kräftiger Mann, aber Sie sind winzig gegenüber dem Weißen Wolf.«

Lunov konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Ihr Wissen mag unüberblickbar sein wie die Weite da draußen, dennoch wisst Ihr nicht alles. Vielleicht bin ich so winzig, dass ich mich unbemerkt anschleichen und ihm das Herz rausschneiden kann. Wer vermag das einzuschätzen? Mein Auftraggeber ist dem Volk verpflichtet, also handelt er zum Wohle des Volkes. Außerdem ist die Bezahlung gut, vorausgesetzt, man schafft es, dem Weißen Wolf den Kopf abzuschlagen.«

»Moskau ist weit weg. Wir sind der Regierung egal. Tun Sie, was Sie tun müssen, doch erwarten Sie keine Hilfe von mir. Ich weiß nichts.«

»Glauben Sie mir, auch wenn ich höchstens halb so alt bin wie Sie, habe ich diesen Satz leidlich oft gehört. Deshalb bin ich vorbereitet.« Er hielt dem Berg ein Etui mit goldenem Reißverschluss hin. Eingeprägt im Leder befanden sich Hammer, Sichel und Stern. Das Emblem der ehemaligen Sowjetunion.

»Es gibt nichts, was Sie mir anbieten könnten.«

»Oh, in diesem Punkt missverstehen Sie mich.« Lunov öffnete den Reißverschluss und brachte dreißig Nadeln unterschiedlicher Stärke und Länge zum Vorschein. »Ich hole mir immer das, was ich brauche.«

Ohne zu blinzeln, nahm der Alte einen weiteren Zug von der Pfeife. »Russland schickt einen seiner Folterknechte in einen längst vergessenen Landstrich.«

»Für einen Berg sind Sie nicht sehr klug. Meine Pflicht gegenüber Russland habe ich als junger Genosse erbracht. Hier geht es vielmehr um ein beträchtliches Kopfgeld. Ihre Hütte erinnert mich daran, dass ich nie so enden will wie Sie. Ein Wunder, dass Sie überhaupt so alt geworden sind.«

Der Berg sah Lunov nur an.

»Okay, Sie haben mich durchschaut. Eigentlich tue ich das auch für Russland. Für das Vaterland lohnt es sich zu sterben, oder nicht?«

»Darf ich wenigstens noch austrinken, bevor wir beginnen?«

An diesem Abend steckte Lunov die Nadeln unbenutzt weg. Und nach einer Stunde wusste er, wohin er dem Weißen Wolf folgen musste.

Doch was er da noch nicht wusste: dass er ein Jahr später zu Anton Below werden würde.

Blut und böser Mann
titlepage.xhtml
index_split_000.html
index_split_001.html
index_split_002.html
index_split_003.html
index_split_004.html
index_split_005.html
index_split_006.html
index_split_007.html
index_split_008.html
index_split_009.html
index_split_010.html
index_split_011.html
index_split_012.html
index_split_013.html
index_split_014.html
index_split_015.html
index_split_016.html
index_split_017.html
index_split_018.html
index_split_019.html
index_split_020.html
index_split_021.html
index_split_022.html
index_split_023.html
index_split_024.html
index_split_025.html
index_split_026.html
index_split_027.html
index_split_028.html
index_split_029.html
index_split_030.html
index_split_031.html
index_split_032.html
index_split_033.html
index_split_034.html
index_split_035.html
index_split_036.html
index_split_037.html
index_split_038.html
index_split_039.html
index_split_040.html
index_split_041.html
index_split_042.html
index_split_043.html
index_split_044.html
index_split_045.html
index_split_046.html
index_split_047.html
index_split_048.html
index_split_049.html
index_split_050.html
index_split_051.html
index_split_052.html
index_split_053.html
index_split_054.html
index_split_055.html
index_split_056.html
index_split_057.html
index_split_058.html
index_split_059.html
index_split_060.html
index_split_061.html
index_split_062.html
index_split_063.html
index_split_064.html
index_split_065.html
index_split_066.html
index_split_067.html
index_split_068.html
index_split_069.html
index_split_070.html
index_split_071.html
index_split_072.html
index_split_073.html