Kapitel 22

 

Heute

 

Jeder einzelne Tag in der Kriminalpolizeilichen Erstkontaktstelle, an den Donner zurückdenken konnte, war ihm unendlich lang vorgekommen. Jetzt, wo man ihn überhaupt nicht mehr brauchte, vergingen die Tage doppelt so langsam.

Er drückte seine Zigarette auf einem Teller aus. An diesem Tag bereits die zwölfte.

Und heute war der längste Tag seines Lebens.

Er war vierzig geworden. Er hatte Zwangsurlaub und es gab niemanden in seinem Leben, mit dem er ihn verbringen konnte.

Krank vor Langeweile wanderte Donner durch seine Wohnung. Er blieb vor dem Flurspiegel stehen, wo er prompt eine neue Falte an der Stirn entdeckte. Er trug nur ein leichtes Shirt, unter dem die Brustmuskeln gut sichtbar hervortraten. Früher, so fand er, war er durchtrainierter gewesen. Er winkelte den Unterarm an, um kurz darauf mürrisch abzuwinken. Irgendwie hingen seine Muckis selbst im angespannten Zustand schlaff am Knochen. Und dazu die Narben! Selbst diese sahen von Tag zu Tag hässlicher aus. Er konnte den Anblick nicht mehr ertragen und ging ins Wohnzimmer Richtung Fensterfront.

Vierzig! Das klang so unendlich alt.

Kein Wunder, dass sich in dem Alter kein Mensch mehr an seine Geburt erinnern kann.

Kein Wunder, dass man sich in dem Alter über Altersheime, Grabgrößen und Sargkosten informierte. Zumindest konnte es nicht schaden, an die Zukunft zu denken. Immerhin war man in der Regel länger tot als lebendig.

Die einzigen Menschen, die ihm gratuliert hatten, waren die Angestellte vom Einlassdienst bei der KPI, sein ehemaliger Boxtrainer und Frau Schmidt, die nette Witwe aus dem Erdgeschoss. Das war ziemlich erbärmlich für einen Mann, der einmal geglaubt hatte, die Welt gehöre ihm. Zusammengerechnet brachten es die drei Gratulanten auf ein sagenhaftes Alter von zweihundert Jahren. Zwei Frauen, ein Mann. Wenigstens stimmte seine Quote beim weiblichen Geschlecht. Es gab also noch Hoffnung.

Er öffnete das Fenster, um die Kopfschmerzen loszuwerden. Die kühle Abendluft wehte ihm lindernd entgegen. Vor dem Haus eilte jemand mit gesenktem Kopf – der Statur nach ein Mann – den Gehweg davon und verschwand bald beim Döner-Imbiss um die Ecke.

Im Straßenlicht sah Donner den dreibeinigen, kleinen Hund vom Nachbareingang, der gegen eine Laterne pinkelte. Dazu brauchte das Tier nicht einmal das Hinterbein zu heben, weil es ja fehlte. Mit traurig hängendem Kopf und auf kuriose Art hüpfte der Hund weiter.

Donner zählte die Fahrzeuge, die vorbeifuhren.

Eins.

Zwei.

Weil kein drittes kam, schloss er das Fenster wieder.

Happy Birthday, du Schrotthaufen!

Für eine Sekunde dachte er daran, sich zu besaufen, aber er wollte vor sich selbst ein Mindestmaß an Selbstachtung behalten. Außerdem hatte er keinen Tropfen Alkohol im Haus.

Der Gedanke an ein Besäufnis verflog, als es klingelte. Er wusste nicht, ob er sich über Besuch freuen sollte. Gerade als er die Tür aufmachen wollte, entdeckte er einen weißen Zettel auf dem Laminat. Er hob ihn auf und las.

 

Misch dich nicht ein oder es sterben weitere Unschuldige.

 

Donner wendete den Zettel. Es stand nur der ein Satz in Maschinenschrift darauf. Jemand musste ihn innerhalb der letzten halben Stunde unter der Tür durchgeschoben haben. So etwas stellte kein Problem dar. Immerhin wohnte er in einem Altbau, bei dem die Spaltmaße der Türen alles andere als auf dem neusten Stand waren.

Wer steht vor der Tür?

Kurz ließ er die Hand über dem Türgriff schweben, dann drückte er ihn abrupt nach unten und riss die Tür auf.

Im Treppenhaus machte Nina Richter einen Satz zurück. »Wow, bist du heute stürmisch!«

Erbost hielt er den Zettel hoch. »Warst du das?«

Sie beugte sich vor und versuchte etwas auf dem Papier zu erkennen. »Wieso? Was steht denn auf dem Liebesbrief?«

Er dachte an den Mann, den er auf dem Gehweg davoneilen gesehen hatte. »Ist dir jemand im Hausflur begegnet?«

»Was ist denn das für eine Begrüßung?«

»Ach, nicht so wichtig …« Donner zerknüllte den Zettel in seiner Hand und musterte sie. In beiden Ohrläppchen glitzerten auffällig bläuliche Stecker. Er bemerkte, dass Nina Richter diesmal einen noch kürzeren Rock und noch höhere Absätze als bei ihrem ersten Kennenlernen trug.

»Was willst du?«

»Mann, bei dir steppt ja der Bär.« Sie verdrehte die Augen und wedelte mit einer Sektflasche. »Mit dir anstoßen natürlich! Immerhin habe ich gleich an meinem allerersten Praktikumstag einen Staatsanwalt um den Finger wickeln müssen und wäre fast von der Russenmafia verschleppt worden.«

Achtung, Erik, die ist garantiert nicht nur zum Anstoßen da! Du darfst die nymphomane Tochter des Teufels unter keinen Umständen in dein Himmelreich lassen! Ramm ihr einen Pflock in die Brust. Ende der Geschichte.

Er zögerte, dann ließ er sie eintreten. Sie zeigte ein billiges Lächeln und zog sich die Jacke aus. Dabei entblößte sie ein Trägertop mit extrem dünnen Trägern.

»Also, Nina, was willst du wirklich?«

»Meine restlichen fünfhundert Euro.«

Ich habe das Handy noch nicht mal ausgepackt. Vielleicht kann sie es zurückgeben und sich das Geld wiederholen.

»Was hat Staatsanwalt Krause eigentlich zu dem Beweisstück gesagt?«

»Dein Schmuddelheftchen?« Sie verschwand in der Küche, wo sie offenbar nach Gläsern suchte. »Nichts.«

Gleich wird sie mir erzählen, wie Krause getobt hat.

An der Vorstellung amüsierte er sich.

»Viel aufschlussreicher fand er die Geschichte, als du in frühster Kindheit deinem besten Freund beim Sterben zusehen musstest.«

Wie ein Tornado fegte Donner ebenfalls in die Küche. »Von was redest du da?«

»Von deinem Hund natürlich! Dem rotbraunen, teddyartigen, knuffigen Toto mit den treuen Knopfaugen.«

»Ich hatte nie einen Hund. Kein Haustier hält es bei mir länger als einen Tag aus.«

»Eben! Er ist in deinen Armen gestorben, während du dein Kinn in sein Fell vergraben hast.«

Ah, du willst dich so an mir rächen. Aber ich falle darauf nicht herein.

»Das hast du Krause niemals erzählt!«

»An Heiligabend.«

»Sag mir, dass du ihm diese Lüge nicht aufgetischt hast.«

Der Korken knallte.

Weil sie keine Sektgläser fand, kippte sie das Getränk in zwei Saftgläser. Mit gespitzten Lippen fuhr sie fort. »Außerdem sagte ich, dass bei deiner Geburt die Nabelschnur zweimal um den Hals gewickelt war. Die Steißgeburt hat deiner Mutter wirklich alles abverlangt.«

Er trat dicht an sie heran. Ihr Hals befand sich in Reichweite seiner Hände. Jetzt konnte er sie erwürgen. Sie hob die Gläser und drückte ihm eines gegen die Brust. Eine Weile sah er ihr in die schlangengrünen Augen. Sie sah fest zurück.

Dann sagte sie mit einem anrüchigen Grinsen: »Mit Staatsanwalt Krause dürftest du in nächster Zeit jedenfalls keine Probleme mehr haben. Ehrlich, er war sehr angetan von meiner Erscheinung und natürlich von deiner Geschichte. Cheers!«

Die Gläser klirrten. Sie trank. Donner hielt sein Glas bloß in der Hand. Erst als sie es vorsichtig am Boden anfasste und zu seinen Lippen führte, nahm auch er einen Schluck. Für einen Moment war eine seltsam magische Chemie zwischen ihnen. Sie kam mit ihrer Nasenspitze näher.

Sie ist erst dreiundzwanzig! Ich würde mich ewig hassen.

Eine Fliege summte durch das Zimmer. Das Insekt setzte sich an den Rand seines Glases.

»Du bist Widder.«

»Was?« Der Alkohol schlug bei ihm sofort an.

»Man sagt, Widder wären impulsiv, energiegeladen und ruhelos.«

»Kann sein.«

»Widder setzen sich gern über Regeln und Konventionen hinweg.«

»Also, das klingt eindeutig nicht nach mir.«

»Und sie können eine Frau in den Wahnsinn treiben.«

»Okay, ein paar Leichen habe ich auf dem Gewissen.«

»Außerdem munkelt man, dass Widder nichts mit der Missionarsstellung anfangen können, sondern es experimentell lieben.«

Er nahm einen großen Schluck vom Sekt. Zu hastig. Die Fliege schreckte vom Glas auf. Donner hustete. Nina Richter klopfte ihm auf den Rücken. Als er sich beruhigte, gingen die Schläge in ein Streicheln über.

»Okay, stopp!«, sagte er und schob ihren Arm weg. »So geht das nicht.«

»Warum nicht?« Sie machte einen Schmollmund.

Ja, warum eigentlich nicht?

Er war verwirrt. Er war vierzig. Sie dreiundzwanzig. Außerdem war da noch eine andere Frau …

Die Fliege krabbelte auf der Arbeitsplatte dicht an Nina Richters Hand vorbei. Sie folgte seinem Blick, der dem Weg der Fliege folgte. Er sah das Unheil kommen.

Blitzschnell schlug sie zu.

»Nein!«

Ihre Hand ruhte an der Stelle, wo eben die Fliege gesessen hatte.

»Was ist?«

»Manche Fliegen haben es nicht verdient zu sterben.«

»Bist du so was wie der Dalai Lama der Insekten?«

»So was in der Art.« Er griff nach ihrem Handgelenk und hob ihren Arm langsam an.

Keine tote Fliege.

Er atmete erleichtert aus.

Diese Berührung nutzte sie und schob sich ganz dicht an ihn heran. Er bemerkte zu spät, dass er ihren Arm noch immer festhielt. Sie befeuchtete ihre wunderschönen roten Lippen. »Dass du dich so um diese kleinen Tierchen sorgst, finde ich irgendwie … charmant.«

Das letzte Wort hauchte sie nur.

Donner öffnete leicht den Mund und biss dabei die Zähne zusammen. Der knisternde Moment dehnte sich bis zur Unendlichkeit …

… und wurde durch das Klingelläuten beendet.

Er stürmte in den Flur.

Fast wie eine Erlösung riss er die Tür auf und blickte in die Augen von Annegret Kolka.

Blut und böser Mann
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