Kapitel 58

 

Allmählich traten die fluoreszierenden Zeiger der Armbanduhr deutlicher hervor. Bald würde Kolka mit bloßem Auge kaum noch die Umrisse der Gegend erkennen. Die Schatten der Bäume krochen über die Gräser und über die staubige Erde vor der Baracke. Dadurch wirkte das Gebäude weit finsterer als bei der Ankunft.

Die Stille machte die Umgebung gespenstisch. Erik war an der Front entlanggerannt und vor einer Minute im Inneren verschwunden.

In Kolka gärten Sorge und Frust.

Ich hoffe, du hast da drinnen niemanden zum Kartenspielen gefunden? Also mach schon, Erik! So lange dauert das doch nie, ist ja immerhin kein Spielkasino.

Sie lauschte, ob er ein Zeichen gab. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu kreischen. Nur hin und wieder sang eine Kohlmeise.

Kolka kannte die melodisch sprunghaften Terz-Töne des Vogels allzu gut, war sie doch während ihrer Zeit in Leipzig wöchentlich durch den Auenwald gejoggt – begleitet vom Ruf einer Kohlmeise.

Heute klang es mehr als früher wie ein Warnruf.

Kolka stemmte die Hände gegen den klammen Erdboden, versuchte zwischen Zweigen und Blättern durch eine Lücke zu spähen. Ein Weberknecht krabbelte über ihre Finger und flüchtete von dort ins Moos. Sie ekelte sich nicht vor Insekten oder Spinnentieren, höchstens bekam sie Panik bei Dachsen. Aber dazu gehörte eine andere Geschichte, die sie als Kind im Bauernhaus ihrer Urgroßmutter erlebt hatte …

Es raschelte.

Suchend schwang sie herum, die Pistole in Vorhalte. Noch immer geduckt.

Wenn das ein Dachs ist, werde ich ganz laut schreien.

Den Dachs, der sich vor fünfundzwanzig Jahren durch die Außenwand direkt in ihre Schlafkammer gegraben hatte, verfolgte sie ihr Leben lang in ihren Albträumen.

Doch diese Geräusche stammten von einem größeren Tier. Astwerk brach, Blätter wurden zur Seite gepeitscht. Kolka stierte in die Richtung, aus der das Lebewesen kam. Im Moment wusste sie nicht, was sie mehr fürchtete: einen Dachs oder eine Wildsau. Und sie bezweifelte nicht, dass es in diesem verwilderten Gebiet Wildschweine gab.

Es näherte sich.

Kolka spürte, wie ihr Herzschlag sich zeitgleich mit den Tönen der Kohlmeise beschleunigte. Nadelspitzen stachen ihr durch Jacke und T-Shirt in den Rücken. Ohne es zu merken, war sie zurückgewichen, direkt in die Dornen des Gebüschs.

Sie versuchte sich klein zu machen, aber sie kauerte bereits mit einem Buckel zwischen Moos und Erde.

Das, was sich näherte, quiekte. Es quiekte und japste. Die Töne klangen wie die Angstlaute eines verletzten Rehs oder einer erschöpften Katze.

Kolka hielt die Luft an, als das Geschöpf durch Blätter und Geäst brach. Nackt und auf der Haut geschunden trat es aus dem Gebüsch. Etwas tollpatschig wischte es sich die zerzauste Mähne aus dem Gesicht. Die Beine standen krumm im Unterholz.

Ein Mädchen! Scheiße, ich hätte fast auf ein Mädchen geschossen.

Sofort nahm Kolka die Pistole runter und erhob sich. Das Mädchen zuckte zusammen. Fast stolperte es dabei zu Boden. Seine panisch geweiteten Augen blickten Kolka entgegen wie zwei Löcher, in denen der Abend versank.

Kolka glaubte, diese Augen nie wieder vergessen zu können. Die Gestalt, die da im letzten Licht des Tages taumelte, konnte man nur noch als Mensch bezeichnen, weil man Brust, Schambehaarung und die weiblichen Umrisse erkannte. Die Rippenbögen stachen deutlich hervor, und an Kinn und Wangen hing dick der Schmutz. Die Arme bluteten, vermutlich von Dornen und Ästen – hoffentlich nicht von Folter.

Plötzlich fiel es Kolka ein. Sie kannte das Mädchen. Das Bild hatte man zusammen mit dem der Mutter in den Zeitungen abgedruckt. Und darüber prangte die Überschrift: VERMISST.

»Emma!«, rief sie den Namen von Brechts vierzehnjähriger Tochter.

Als Kolka zwei schnelle Schritte nach vorn machte, kreischte Emma los. Sie kreischte so sehr, dass Kolka erschrocken den Mund aufriss, um mit einzustimmen. Der Schrei war so laut, dass er die Umgebung vollkommen ausfüllte und Kolka in der Seele schmerzte.

»Still!«, mahnte Kolka, doch Emma rannte jammernd davon. Sie musste Unglaubliches erlebt haben, um derart verstört zu regieren. Der Fluchtinstinkt wirkte als Antrieb. Scheu und mit der Kraft der Furcht sprang sie über Wurzeln, um mitten durch das Dickicht zu türmen.

Kolka folgte ihr, ohne zu zögern. Gut zehn Meter trennten sie von dem Mädchen. Emma schrie ununterbrochen. Ihre nackte Haut leuchtete hell inmitten der graubraunen und finstergrünen Flora.

»Bleib stehen!«, rief Kolka ihr hinterher.

Vergebens. Das Mädchen hörte nicht auf den Befehl.

Verdammt, woher nimmt sie nur die Kraft?

»Bleib endlich stehen! Ich beschütze dich!«

Emma blickte sich nicht einmal um. Sie verschwand hinter dem Stamm einer uralten Eiche.

Für einen Moment dachte Kolka, sie hätte die Flüchtende verloren. Aber da waren noch immer die Schreie vor ihr. Die Dunkelheit kam. Fast greifbar spürte Kolka, wie sie sich vom Himmel über alles und jeden legte. Sie musste das Mädchen vor der Dunkelheit retten. Oder vor dem, was sie eigentlich bedrohte.

Minutenlang liefen sie. Jammernd, schnaubend, aggressiv. Bis Kolka aufholte. Und dann stürzten sie beide.

Kolka bekam die feuchte, kalte Haut zu fassen. Die Haare des kreischenden Opfers peitschten ihr ins Gesicht. Für einen Sekundenbruchteil wurde es plötzlich schwarz vor Kolkas Augen. Sie schmeckte Blut. Dann kehrte die Besinnung zurück.

Mit voller Wucht hatte das Mädchen ihr den Fuß ans Kinn gerammt. Aber Kolka hatte nicht losgelassen. Für eine unendlich lange Zeit drückte sie das strampelnde Mädchen an ihre Brust – bis beide flacher atmeten. Die Mordsangst und die Wut verflogen. Die Klänge des Waldes hüllten sie ein wie in ein weiches Tuch.

»Ich bin bei dir«, wisperte Kolka. »Dir kann nichts passieren.«

Emma japste nach Luft. Sie redete nicht. Es schien, als erstickte sie jeden Moment.

»Ich bringe dich hier weg, Emma, ich verspreche es.« Sie nahm das Gesicht des Mädchens in beide Hände, um sie zu beruhigen.

Heute sah sie nicht wie eine Vierzehnjährige aus. Mit den tränennassen, geröteten Augen, der triefenden Nase und den blutverschmierten Haaren sah sie wie ein Kriegsopfer aus. Ein kindliches, verletztes Opfer.

»Geht es?«, fragte Kolka und nahm langsam die Hände von ihr.

Jetzt nickte Emma. Sie stierte Kolka an, als wären sie zwei fremdartige Wesen, die sich kennenlernten.

»Vor wem läufst du weg?«

Das Mädchen zwinkerte nicht einmal. Es war völlig verkrampft.

»Vor wem läufst du weg? Sag es mir, bitte! Ich muss es wissen, damit ich weiß, mit wem wir es zu tun haben. Ganz in der Nähe steht mein Wagen, ich bringe dich weg von hier. Nur sag mir schnell, vor wem wir weglaufen müssen!«

Es dauerte sehr lange, bis sich Emmas Lippen bewegten. Inzwischen hatte Kolka die Frage dreimal gestellt.

»Es ist …«, begann Emma zu stammeln, wobei ihr dicke Tränen kamen.

»Es ist …«

Gerade als sie den Namen nannte, explodierte ihr Kopf.

Blut und böser Mann
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