Kapitel 54
Donners Entscheidung stand fest: Er würde sich vor das Fahrzeug werfen.
Vor fünfundzwanzig Minuten hatte man ihn des KPI-Gebäudes verwiesen. Allerdings hatte er nicht vor, zu gehen. Donner ging nie einfach, wenn ihn jemand dazu aufforderte. Und nur Anne konnte ihm jetzt noch helfen.
An der Mauerecke, im toten Winkel der Kamera zur Einfahrt, wartete er. Er klopfte seine Taschen ab. Wieder keine Zigaretten dabei. Um die Nervosität zu vertreiben, entflammte er mehrmals hintereinander das Feuerzeug. Grom, las er die auf dem Gehäuse eingravierte kyrillische Schrift.
Donner.
Die Schranke hob sich. Er rechnete schon damit, dass abermals ein anderer Kollege herausfuhr, bis sich die knallrote Karosseriefarbe, das Autoemblem mit den vier Ringen und schließlich das richtige Kennzeichen aus dem Schatten der Durchfahrt schälte.
Er zählte bis drei, dann sprang er vor.
Die Bremsbeläge griffen geräuschvoll nach den Scheiben. Zentimeter vor Donners Oberschenkeln kam die Stoßstange zum Halten. Hinter der Frontscheibe gestikulierte Anne wild. Er rannte um die Fahrzeugschnauze herum und wollte die Tür aufreißen, aber sie hatte die Verriegelung betätigt. Triumphierend hob sie die Faust und streckte ihm obendrein die Zunge raus.
»Eine Scheibe zwischen uns kann mich nicht aufhalten!«, rief er. Probehalber rüttelte er ein weiters Mal am Griff. Die Tür gab nicht nach. Das galt in doppelter Hinsicht auch für Anne. »Was erwartest du? Soll ich vor deinem Kühler niederknien?«
Dann brauchst du nur Gas geben und kannst unsere Beziehung filmreif beenden.
»Du würdest nicht einmal vor Gott knien«, kam es gedämpft durch die Scheibe zurück. Ihre Gesichtsmuskeln verrieten, wie sehr sie es herausschrie. »Lass es gut sein!«
»Herrje, du benimmst dich wie ein Teenager. Mach die Tür auf! Bitte!« Die Ein-Wort-Losung formte er nur mit den Lippen.
Nach gefühlt unendlich langer Zeit klackte die Verriegelung. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, öffnete er die Tür und schwang sich auf den Beifahrersitz. Sie hielt den Kopf mit Blickrichtung zur Straße. Den Rücken bog sie wie eine widerspenstige Katze und die Finger krallte sie um das Lenkrad. Ihre Atemgeräusche verrieten, wie wütend sie war. Zuerst wollte er lospoltern, warum sie ihn am Handy weggedrückt hatte und jetzt so eine Terz machte. Rechtzeitig besann er sich. Nicht sie hatte ihn enttäuscht, sondern umgekehrt. Es wurde Zeit, einen Gang runterzuschalten.
Oder besser zwei.
Ihre blasse Gesichtsfarbe bereitete ihm Sorge. Auch aus ihren Händen schien das Blut gewichen zu sein. Selten zuvor hatte er sie in ähnlicher Verfassung erlebt. Hinter den Haaren, die ihr ins Gesicht fielen, versuchte sie ihren Zustand zu verbergen, aber die sorgenvolle Miene hatte er längst bemerkt.
Er machte den Anfang. »Ein schlauer Mensch sagte einmal, für eine Entschuldigung sei es nie zu spät. Verflucht, derjenige muss genauso ein Ignorant gewesen sein wie ich!«
»Ich mache mir keine Gedanken über dich.«
Mit sämtlichen Beschimpfungen der Welt hatte er gerechnet, nur nicht mit dieser profanen Aussage.
»Brecht und Brandner, sie haben … Sie haben … Wir haben versucht, zwei Monster zu retten!« Bei dem Wort Monster blickte sie ihn endlich an. Eine Entschuldigung für den Begriff lag in ihrem Blick – und Besorgnis. »Gott, wie ich unseren Job hasse.«
Das Gefühl, sie in die Arme zu schließen, sie an sich zu ziehen, wurde übermächtig. Weil seine Seele jedoch so poesielos war wie der gesamte Mann, sagte er bloß: »Du hasst deinen Job nicht, höchstens die Wahrheiten, die er mit sich bringt.«
Hinter dem Audi hupte jemand.
Sie blickte in den Rückspiegel, wischte sich mit der Spitze des kleinen Fingers unter dem linken Augenlid. Die Schminke verschmierte. »Dir bleiben zehn Sekunden, um mir zu erzählen, was du von mir willst, danach verlässt du mein Fahrzeug oder ich rufe die Polizei. Zehn!«
»Ich muss wissen, wo Brandner ist. Niemand will es mir sagen.«
»Und da denkst du, die dumme Pute wird es dir schon verraten?«
»Ich glaube, Brandner hat mit mir telefoniert.«
»Sechs Sekunden …«
»Die Nacht, bevor er gefunden wurde.«
Sie hörte auf runterzuzählen. Offenbar brauchte sie eine Weile, um die Bedeutung der Aussage zu verarbeiten. Es hupte erneut. Diesmal nachdrücklicher.
»Jaja, schon gut, wir stehen auch an!«, brüllte Donner und machte eine herausfordernde Handbewegung in Richtung des Dränglers. Er setzte sich wieder gerade in den Sitz und stierte zur Frontscheibe hinaus, um sein inneres Gleichgewicht zu finden. Das erschien ihm nach seinem Fehlverhalten angemessen. »Rammler hat versucht, mir einzureden, dass ich mir einige Begebenheiten, die sich im Pfandhaus abgespielt haben, nur eingebildet habe.«
»Er wollte dich vor dir selbst schützen.«
»Ich mag ihn nicht.«
»Ich mag ihn … irgendwie.«
Die Vorstellung, was sie damit konkret meinen könnte, verdrängte er. Bevor sie merkte, dass seine Zeit abgelaufen war, redete er weiter. »Ich habe diesem Igor sein Handy abgenommen und mit einem Mann telefoniert.«
Sie sah ihn eindringlich an. Offenbar war sie an der Geschichte interessiert.
»Erst wusste ich nicht, mit wem ich da sprach, aber dann erkannte ich die Stimme im Fernsehen wieder. Sie klang wie die von Felix Brandner. Er hat Igor angerufen und ich habe das Gespräch zufällig abgefangen. Dabei faselte er etwas von Nina und meinem Tod.«
»Nein, du irrst dich! Anton Below hat Brecht und Brandner entführt. Erinnere dich! Vor der Explosion haben wir die Bilder und die Zeitungsausschnitte von CORWEX in seiner Wohnung entdeckt. Die Ausweise, das Geld, die Waffen. Below war früher beim KGB. Er hat alles von langer Hand geplant. Er hat die Morde begangen und Brandner ist dank eines glücklichen Umstandes entkommen.«
»Ich kann dir nur sagen, was ich weiß. Der Mann hörte sich wie Brandner an.«
»Überleg doch mal, was Below als ehemaliger Geheimagent für Fähigkeiten und Möglichkeiten besitzen muss! Vor allem in technischer Hinsicht! Davon können wir nur träumen. Außerdem stammt er aus Russland, da leuchtet es geradezu ein, dass er bei uns Kontakte zu kriminellen Landsleuten pflegt.«
»Das klingt logisch. Trotzdem halte ich CORWEX für ein fragwürdiges Unternehmen. Irgendwas stimmt dort nicht. Die Beweise müsst ihr allerdings noch finden.«
»Du bist verwirrt.« Ihre Stimme klang verunsichert. »Das ergibt keinen Sinn. Es sei denn …«
»Was?«
Wie abwesend griff sie in ihre Jacke und holte ein zusammengelegtes Blatt Papier hervor. Nachdem sie es entfaltet hatte, schien es, als würde ihr Verstand in das Rätsel aus Buchstaben und Zahlen hineingezogen werden. Weil selbst das folgende Hupkonzert sie nicht zur Besinnung brachte, stieß er sie an. Bei einem genaueren Blick auf das Schriftstück erkannte er, dass ganz oben die Adresse eines Privatlabors stand.
Ein DNA-Untersuchungsergebnis.
»Anne!«, hauchte er.
»Lilly.«
»Lilly? Ach so, das kleine Mädchen, ich erinnere mich.«
»Sie ist Beute.«
Donner verstand nicht. Stattdessen legte er den ganzen Arm um ihre Schultern. Er rüttelte sie, um sie zur Vernunft zu bringen.
Das Blatt segelte in seinen Fußraum. Wie verwandelt rammte sie den ersten Gang ins Getriebe. Entschlossenheit funkelte in ihren Augen. »Wir müssen zu ihr!«
»Nein, erst muss ich wissen, wo Brandner ist.«
»Das wirst du.«
Fünfzehn Minuten später war alles anders als erwartet.