Kapitel 7
Zornitz wurde vom eigenen Harndrang aus der Bewusstlosigkeit gerissen. Der Druck auf die Eingeweide wurde unerträglich. Seine Blase gab nach. Warm und nass spürte er es am Oberschenkel hinunterlaufen. Das Schamgefühl wurde augenblicklich von Panik überlagert.
Ruckartig richtete er sich in eine sitzende Position auf. Die Wirbelsäule knackte. Er stöhnte, sein Gehirn erfasste die Situation, löschte den Dämmerzustand wie das Beenden eines Bildschirmschoners, sobald man die Computermaus bewegte.
Um ihn herum roch es nach Staub und Öl. Darunter mischten sich die Dämpfe des eigenen Urins. Der Gestank war ein Zeichen von zu wenig Flüssigkeitsaufnahme. Er registrierte es abwesend. Er versuchte die Umgebung zu erfassen, wie man es mit dem ersten Augenaufschlag nach der Ohnmacht tat. Doch die Welt lag verhüllt. Angst wurde zu einem Gewicht, das ihn erdrückte. Das Kitzeln an der Nasenspitze irritierte ihn. Es steigerte die Nervosität ins Unermessliche. Ein Jutesack! Man hatte ihm einen Sack über den Kopf gezogen. Womöglich vor seiner Hinrichtung, wie bei den armen Schweinen in Afghanistan.
Fesseln schnitten ihm in Handgelenke und Beine. Aus den Extremitäten war das Leben entwichen. Durch die Bewegung nahm er ansteigendes Kribbeln wahr, weil das Blut langsam zurückfloss.
Er würgte. Für eine Schrecksekunde dachte er, man hätte ihm den Unterkiefer amputiert. Dann kamen die Schmerzen rasend schnell. Jeder einzelne Zahn tat weh. Bis tief in die Wurzeln spürte er die Qualen. Als hätte man ihm Nägel in Ober- und Unterkiefer geschlagen. Er wollte schreien, aber kein vollständiger Hilferuf drang aus seinem Mund. Seine Zunge nahm den Geschmack von Eisen, Rost und Blut auf. Man hatte ihm ein spitzes Metallstück in die Mundhöhle geschoben, der Form nach eine Art Ninjastern, und die Lippen mit Klebeband versiegelt.
Ganz vorsichtig schluckte er den überflüssigen Speichel hinunter. Die scharfen Kanten und der Rost rissen ihm Zahnfleisch und Wangeninnenseiten auf. Bloß keine zu hektische Gaumenbewegung!
Die Erinnerungen an die letzten Stunden flackerten auf. Der letzte Besuch an der Tankstelle. Der letzte Euro, den er dort im Spielautomaten versenkt hatte. Der letzte Becher Kaffee. Das letzte Telefonat mit seiner Liebsten. Die letzte Verabredung für ein Abendessen und die verflogene Aussicht auf devoten Sex danach. Zusätzlich war da die Erinnerung an den Unbekannten, der in der Tankstelle plötzlich neben ihm gestanden hatte. Eine zwielichtige Gestalt, die angeblich wüsste, wo sich der Russe aufhielt. Ein Hinweis, der zu einem alten Pfandhaus führte.
Im Nachhinein hatte sich der Tipp als Falle herausgestellt.
Zornitz war mitten hineingetappt. Zuvor hatte er dem Unbekannten noch einen Hunderter in die Hand gedrückt.
Inzwischen bereute er seine Naivität, weniger das Geld. Das hier war kein Leben mehr. Er saß im Vorhof zur Hölle. Wo er sonst beim Roulette auf eine neue Glückssträhne vertraute, sagte ihm sein Verstand diesmal, dass es vorbei war.
Game Over. Sämtliche Extraleben waren verspielt.
S65 war kein Glücksspiel. S65 war der Tod.
Ein anderer hatte das Spiel gewonnen. Zornitz hatte sich mit dem Falschen angelegt. Zu spät, um die richtigen Schlüsse aus dieser Erkenntnis zu ziehen. Er verfluchte Donner, der ihm nicht hatte helfen wollen.
Nun saß er ohne Kleider da, das Geld samt Umschlag hatte man ihm abgenommen. Nackt und bloß realisierte er, dass er nicht ewig durchhalten konnte mit dem todbringenden Eisen im Mund.
Als er die Umgebung mit den Füßen ergründete, berührte er etwas, das sich wie Haut anfühlte. Reflexartig rückte er von dem kalten Fleisch weg.
Ja, da lag ein Toter. Zornitz roch getrocknetes Blut und den stinkenden Körper. Ein Aroma von Fäulnis legte sich über das des Metalls. Er wollte ausspeien, aber das Klebeband verhinderte auch das. Der Geruch des Todes würde ihn in seinen letzten Stunden begleiten. Angstvoll zwang er sich, flach zu atmen.
Da war noch jemand.
Ganz in seiner Nähe jammerte jemand leise. Eine Frau. Als hätte diejenige stundenlang geweint und nun keine Kraft mehr für weitere Tränen.
Oder ein Mädchen? Nein. Er war sich sicher, dass es sich um eine Frau handelte. Sie saß höchstens zehn Meter von ihm entfernt.
Es kam ihm surreal vor, aber plötzlich fand er die Szene urkomisch. Durch das Klebeband konnte er nur gedämpft kichern. Er weinte sich in den Wahnsinn hinein. Er hatte sie gefunden! Er hatte Brandners Frau gefunden. Jetzt zweifelte er nicht mehr daran, dass er mit ihr im gleichen Raum saß.
Gleichzeitig nahm er an, dass der Tote, dessen nackten Körper er berührt hatte, Felix Brandner selbst war. Der Mann war tot. Und die Ehefrau und Zornitz würden es bald sein.
Mit einem Schlag verging ihm das Lachen. Stattdessen fragte er sich, wo die neunjährige Tochter des Unternehmers geblieben war. Die Sorge um Lilly verflog, als er Schritte vernahm. Dafür stieg in ihm die Angst an.
Jemand betrat den Raum und das Gemetzel ging los.