Kapitel 19
In seiner gesamten Polizeilaufbahn hatte Donner niemals erlebt, dass ein amtierender Polizeipräsident am Brennpunkt eines laufenden Einsatzes auftauchte. Lotte Andresen brach mit dieser Tradition. Donner war von Kroll gewarnt worden, dass man sie aus dem Schlaf geholt hatte. Ein Umstand, der ihre Laune nicht zu seinen Gunsten beeinflussen dürfte.
Selbst eine Dreiviertelstunde nach der Stürmung des Klubs herrschte auf dem Vorplatz ein Treiben wie bei einem Volksaufstand. Kein Wunder, schließlich hatte man eine Party von der Größe eines kleinen Konzerts beendet. Für die Umstehenden galt die Polizei damit wieder einmal als Spielverderber.
Mit gut gemeinten Worten und, wo es nötig war, Körpereinsatz motivierten die Einsatzkräfte die Zuschauer zum Gehen, wobei besonders die Jugendlichen nicht daran dachten, auch nur einen Meter herzugeben. Begleitet von Pfiffen und Beschimpfungen, war für sie der Auftritt der Polizei eine amüsante Gelegenheit. Alle überboten sich gegenseitig darin, das komplette Einsatzgeschehen mit ihren Smartphonekameras festzuhalten. Man brauchte kein Prophet zu sein, um zu wissen, dass innerhalb der nächsten Stunde unzählige Videos mit zusammenhanglosen Szenen bei Youtube und Co. kursieren würden. Die Kameras der Presseleute bildeten da höchstens das i-Tüpfelchen an öffentlicher Aufmerksamkeit.
Wie ein gefangener Soldat nach erbittertem, aber verlorenem Gefecht, mit schmutzigem Mantel, zerrissenen Hosenbeinen, wildem Haar und etlichen Hämatomen wurde Donner vor Kroll hergetrieben. Abseits des Publikumsverkehrs wartete die Polizeipräsidentin auf ihn. Schon von Weitem sah er ihre vor Ungeduld wippende Schuhspitze. Über den Außendienstleiter hatte sie unmissverständlich ausrichten lassen, dass sie zuallererst mit Donner reden wollte.
Ihr Blick schickte tödliche Pfeile. Während er auf sie zuwankte, betastete er die schmerzenden Stellen an seinem Schädel. Heute würde er im wahrsten Sinne des Wortes nicht bloß mit einem blauen Auge davonkommen. Aber das war es nicht, was ihn verunsicherte. Auch nicht die Anwesenheit des Dezernatsleiters Totner und des dicken Starks. Es war Kolka, die etwas abseits stand und ihn kopfschüttelnd musterte. Ihre ganze Haltung ließ erkennen, wie enttäuscht sie von ihm war. Inzwischen dürfte sich die Sache mit der Praktikantin herumgesprochen haben. Vermutlich hatte Kolka die auffällige Dame schon gesehen und sich dieselbe Frage wie alle anderen gestellt: Was trieb ihn nachts mit einem so jungen Ding ins Atmosfera?
Bei Andresen angekommen, ging es ohne eine Begrüßung los: »Sind Sie eigentlich komplett verrückt geworden, Donner?«
Er versuchte es auf die Mitleidstour, indem er sich keuchend an die Rippen fasste. Es gelang ihm nicht, der Polizeichefin ein Minimum an Verständnis abzuverlangen. Nicht mal ein besorgtes Blinzeln. Der gereizte Tonfall der Polizeipräsidentin nahm sogar an Intensität zu.
»Was Sie hier abgezogen haben, ist eine ungeheuer dämliche One-Man-Show! Haben Sie auch nur eine Sekunde daran gedacht, in welche Gefahr Sie sich und Frau Richter bringen?«
Donner öffnete den Mund, biss sich jedoch sofort auf die Lippen. Ihm fehlten die Gegenargumente und die Rückendeckung. Wie die Kollegen hielt er es für besser, einfach stocksteif stehen zu bleiben und die Moralpredigt wie ein Mann zu ertragen.
»Herr Totner hat mich von Ihrem Alleingang in Sachen Klemens Brecht informiert. Damit haben Sie nicht nur sich selbst, sondern auch der Sonderkommission und dem gesamten Ansehen der Polizeidirektion einen Bärendienst erwiesen. Mir bleibt daher keine andere Wahl: Hiermit spreche ich Ihnen das Verbot der Führung der Dienstgeschäfte aus.«
»Was?«
»Für die nächsten sieben Tage sind Sie beurlaubt. Danach melden Sie sich unverzüglich in meinem Büro, wo Ihnen ein Beauftragter der Personalabteilung die disziplinarischen Maßnahmen erörtern wird. Ist das in Ihrem Dickschädel angekommen?«
»Hören Sie, Frau Andresen, ich habe keinerlei Beweise, aber ich bin mir sicher, dass Polizeimeister Stefan Zornitz in Lebensgefahr schwebt. Sie müssen mir glauben!«
Andresens Blick verlor für Sekunden an Gnadenlosigkeit und machte stattdessen Ungläubigkeit Platz. Blinzelnd sah sie zuerst zu Totner, danach zu Stark. Beide blieben regungslos stehen, als wollten sie mit ihrer Passivhaltung ausdrücken: »Sehen Sie nur, Frau Präsidentin, der König der Dummtröten steht vor Ihnen!«
Mit entschlossen erhobenem Zeigefinger wies sie Donner die Richtung. »Gehen Sie nach Hause! Verschwinden Sie aus meinen Augen, bevor ich meine gute Kinderstube vergesse!«
Wenn das Ihr letztes Wort ist …
Auffordernd präsentierte sie ihm ihre Handfläche. »Ich will, dass Sie mir den Schlüssel für Ihr Büro aushändigen.«
Zähneknirschend löste er den entsprechenden Schlüssel vom Bund. Er hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zwischen zwei Fingern. »Darf ich vorher wenigstens meinen Hamster holen? Er wird schnell aggressiv, wenn er nicht regelmäßig sein Kraftfutter bekommt.«
»Hören Sie endlich auf, jeder weiß, dass Sie im Umgang mit Tieren genauso hilflos sind wie mit Menschen. Und selbst wenn, lieber würde ich Ihren Hamster verrecken lassen, als Sie einen Fuß in eine Polizeidienststelle setzen!« Damit riss sie ihm den Schlüssel aus der Hand und wandte sich Kroll zu, auf den ebenfalls eine Rüge wartete, weil er Donners Leichtsinn unterstützt hatte.
Beim Weggehen meinte Donner so etwas wie Genugtuung im Gesicht von Totner, seines ehemaligen Dezernatsleiters, zu erkennen. Stark, der mit seinen Händen anscheinend nicht so richtig wusste, ob er sie in die Hosentaschen stecken oder sich damit im Ohr pulen sollte, schüttelte nur bedauernd den Kopf.
»Danke«, murmelte Donner, als er an Kroll vorbeiging.
Der nahm es mit einem müden Augenzwinkern zur Kenntnis und trat vor Andresen. Sein Partner Lichtenberg, der drei Schritte hinter ihm lief, klopfte Donner beim Vorbeigehen auf die Schulter. Danach stand Donner allein in der Seitenstraße. Obwohl unweit von ihm Hunderte Leute krakeelten, spürte er das Gefühl von Einsamkeit mehr als gewöhnlich.
Doch es kam noch schlimmer.
»Eigentlich müsste ich schadenfroh sein,«, vernahm er plötzlich Kolkas Stimme hinter sich, »aber ich empfinde nur Bedauern für dich.«
Donner traute sich nicht, sie anzublicken. Suchend klopfte er seine Manteltaschen nach Zigaretten oder wenigstens nach etwas zum Kauen ab. Was er fand, waren ein grüner Mängelschein, eine alte Tankrechnung, seinen Schlüsselbund und die Kristallstatue, die er heimlich aus dem Klub hatte mitgehen lassen. Nicht mal mehr ein Taschentuch besaß er, um das wiedereinsetzende Nasenbluten zu stoppen. Unbeholfen wischte er mit dem Handrücken unter seinen Nasenlöchern. Sofort zeigte sich ein rot glänzender Streifen auf seiner Haut.
Kolka hielt ihm ihr eigenes Tuch hin. Trotzig nahm er es entgegen. Er bedankte sich nicht, denn für heute hatte er sich mehr als genug bedankt.
»Du solltest den Urlaub nutzen, um dein Leben auf die Reihe zu bekommen.«
»Wenn du meinst«, antwortete er frustriert.
»Ja, das meine ich!«, erwiderte sie ungehalten. »Wenn ich nicht das Gefühl hätte, du wolltest mich mit der Suche nach dem Obdachlosen für irgendeine deiner dummen Ideen missbrauchen, müsste ich dir sogar dankbar sein.«
Er schaute auf, denn er verstand nicht. Als er sich zu ihr umdrehte, schien sie seine Verwirrung zu erkennen, denn sie lächelte leicht triumphierend. »Während wir Luis Reich am alten Kühlhaus gesucht haben, fanden wir Lilly Brandner.«
»Ihr habt Felix Brandners Tochter gefunden?«
»Sozusagen.« Sie klang alles andere als erleichtert. »Leider ist sie völlig verstört und spricht kein einziges Wort.«