Kapitel 49

 

Sie würden es niemals mehr rechtzeitig schaffen.

Donner hatte gehofft, seinen Vater gekämmt und gebügelt auf dem Gehweg wartend anzutreffen. Stattdessen geisterte sein alter Herr mit einem Rasierpinsel in der Hand und jede Menge Schaum am Kinn im Badezimmer herum. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Die Vorschau zeigte einen Krimi, bei dem ein grimmiger, hässlicher Hauptkommissar mit einer taffen Kommissarin über das Motiv eines Serienmörders stritt.

Sie würden zu spät bei Mutter im Krankenhaus erscheinen, um sie zur Therapie in die Psychiatrie verlegen zu lassen.

»Wo hast du die Fernbedienung versteckt?«, rief Donner, während er hinter jedes Kissen des Uraltsofas spähte.

Schüsse hallten im Zimmer wie auf dem Schießstand. Der Filmtrailer zeigte ein paar Actionsequenzen.

Endlich fand Donner, wonach er gesucht hatte.

»Pfoten weg von der Fernbedienung!«, warnte ihn sein Vater, der urplötzlich im Raum stand und sich seinen Schlips band. Allerdings sah es eher aus, als würde er seine Finger verknoten. »Das ist die Ankündigung des kommenden Tatorts. Du weißt, wie allergisch ich reagiere, wenn man mir den vermiest.«

»Bei der Lautstärke ist es ein Wunder, dass man euch noch nicht gekündigt hat.«

»Ach was, hier wohnen doch eh nur Schwerhörige und Halbtote.« Franz Donner machte eine Wischbewegung und kämpfte weiter mit der Krawatte. Bei einer besonders lauten Szene deutete er zum Fernseher. »Wusstest du, dass der Schauspieler aus dem Erzgebirge stammt?«

Donner warf einen Blick auf den Darsteller mit den strohigen, blonden Haaren und der Kartoffelnase und fand, dass der Hauptkommissar tatsächlich wie ein Löffelschnitzer aussah.

»Demnächst kommt sogar ein astreiner Krimi mit dem Prachtkerl im Kino! Darin jagt er einen Serien-Axtmörder.«

Klingt ja reichlich innovativ. Zum Glück ist mir der Psycho mit der Axt bisher erspart geblieben.

»Du solltest dir den Film auch mal ansehen«, legte sein Vater einen oben drauf. »Von dem kannst du noch was lernen!«

»Was denn zum Beispiel? Wie man in einem Bergbau-Schacht Leichen ausgräbt?«

»Rede nicht so abfällig! Dein Großvater hat in der Zeche malocht.«

»Und was hat es ihm eingebracht? Noch vor meiner Einschulung hat er den Löffel abgegeben.«

»Ja, wegen des Scheißurans.«

Ja, scheißionisierende Strahlung.

Beide ließen die Köpfe in stiller Andacht sinken.

Fast zeitgleich setzte im Fernseher die Melodie der Nachrichten ein. Franz Donner hob das geschorene Kinn und stellte sich wie bei einer Modeschau in Pose. »Wie sehe ich aus?«

»Als wolltest du zu deiner eigenen Beerdigung gehen.«

»Hey, ich habe extra nach dem Kleiderbügel mit dem hellen Hemd gegriffen!«

»An der Farbe ist auch nichts auszusetzen, sondern an dem klapperdürren Kerl, der da im Stoff hängt. Du hättest auf die Rasur verzichten sollen. Der Bart hätte dir wenigstens die Leichenblässe genommen. Und jetzt mach endlich die Kiste aus!«

Sein Vater drückte die Fernbedienung dicht an die Brust, als wollte er sie nie mehr hergeben – als wollte er mit der Geste klarstellen, wer von beiden das Sagen hatte. Doch völlig überraschend legte er die freie Hand fürsorglich auf Donners Schulter.

»Junge …«

So versöhnlich, wie er das Wort aussprach, beunruhigte es Donner in besonderem Maße.

»Dass Sie ein Disziplinarverfahren gegen dich eröffnet haben, bedauere ich sehr. Entfernung aus dem Dienst ist aber auch ein hässlicher Amtsbegriff. Ich weiß, wie sehr dein Herz an dem Beruf hängt. Ich kann das nachvollziehen.«

Nein, kannst du nicht. Eine Entlassung wäre mein endgültiges Ende.

»Schon gut …«, erwiderte Donner. Er wollte nicht darüber reden. »Ein Kollege hat mir bereits einen Anwalt empfohlen, der sich im Disziplinarrecht auskennt. Bis alles geklärt ist, halte ich die Füße still.«

»Nein, lass mich ausreden! Du bist weder die Attraktivität in Person noch ein begnadeter Rhetoriker, aber wer einen wie dich rauswerfen will, hat nichts gelernt in unserem Beruf. Für Herzblut sind Paragrafen und Vorschriften kein Ersatz. Du warst mal Boxer! Entweder man hat den Biss und kämpft in der Ecke der Opfer oder man lässt es. Ehrlich, ich verstehe dich oftmals nicht und will eigentlich gar nicht wissen, was in dir vorgeht. Aber für die kleine Explosion stehe ich tief in deiner Schuld. Das war das Beste, was mir in den letzten Jahren passiert ist.« Er lachte kindisch und kratzte sich die Stelle am Rücken, wo ihm ein Holzsplitter die Haut zerfetzt hatte. »Allein die langen Gesichter von Totner und Stark waren die Schmerzen wert. Den beiden Schnarchnasen habe ich ordentlich die Leviten gelesen.«

Du hast nicht nur dich bis auf die Knochen blamiert, sondern vor allem mich.

»Ja, das hast du. Das hast du …«

»Jetzt lass uns deine Mutter besuchen. Wir kommen eh schon zu spät.«

Gerade als Franz Donner den Fernseher ausschalten wollte, kündete die Nachrichtensprecherin einen Sonderbericht zum Entführungsfall der CORWEX-Doppelspitze an.

»Warte kurz!«

Sofort ließ Franz Donner die Fernbedienung sinken.

Die Stimme des Reporters klang souverän. Von Aufregung keine Spur. Zu eingeblendeten Bildern vom Firmengebäude des Jagdwaffenherstellers und scheinbar älteren Videoaufzeichnungen der beiden Geschäftsführer verkündete der Fernsehsprecher, dass die Polizei Felix Brandner gefunden hatte.

»Lauter!«, herrschte Donner seinen Vater an.

»Ja, was denn nun?«, murmelte dieser und betätigte den Regler.

Der Reporter erzählte weiter, während die Kamera das Krankenhaus an der Flemmingstraße – wo auch Donners Mutter lag – einfing. Vor den Stufen zum Eingang patrouillierte ein ordentliches Aufgebot an Polizisten. Am Fahrzeug der Einsatzleitung zoomte der Kameramann dicht an die Aufschrift heran, was wohl für zusätzliche Dramatik bei den Zuschauern sorgen sollte. Donner trat näher an den Fernseher. Anscheinend lebte Brandner tatsächlich.

Ein altes Statement von Brandner wurde eingespielt. Der Interviewausschnitt war mit einem Datum untertitelt, das einige Monate zurücklag. Unweigerlich zuckte Donner zusammen. Es war nicht der Inhalt der Aussage, der ihn irritierte, sondern die Art, wie Brandner es sagte. Die Stimme erinnerte Donner an eine Begebenheit …

Der Bericht endete mit wilden Spekulationen.

Wie benommen drehte sich Donner vom Fernseher weg. »Du musst allein ins Krankenhaus fahren.«

»Bist du irre?«

Donner nickte, obwohl er in Gedanken längst nicht mehr anwesend war. »Ich muss dringend etwas überprüfen. Ich glaube, wir wurden reingelegt.«

Blut und böser Mann
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