Kapitel 28

 

»Krankenhaus?« Donner hatte das Wort deutlich verstanden, dennoch blieb für ihn ungreifbar, was in Wirklichkeit mit dem Begriff verbunden war. Auf offener Straße drehte er sich im Kreis, versuchte krampfhaft die Darlegung der Krankenschwester zu erfassen. Das ältere Ehepaar, das ihn beim Vorbeilaufen streifte, das Schließen der Straßenbahntüren, die Düfte der Dönerbude und der Lärmpegel der Auspuffanlagen um ihn herum entglitten ihm vollständig. »Was soll das heißen, meine Mutter wurde mit schweren Verletzungen eingeliefert?«

»Ihr Zustand ist mittlerweile stabil, alles Weitere wird Ihnen der Arzt erklären.«

»Einen Dreck, ich will es jetzt wissen! Ist mein Vater bei ihr?«

»Deswegen rufen wir Sie an«, erklärte die Krankenschwester am anderen Ende der Leitung geduldig. »Bisher erreicht niemand Ihren Vater. Er hat den Notruf abgesetzt, seitdem ist er verschwunden.«

Donner brauchte nur eine Millisekunde, um zu entscheiden, dass ihn die Fortführung des Telefonats nicht weiterbringen würde.

Seine Gedanken rasten. Er versuchte sich vorzustellen, was in der Wohnung seiner Eltern passiert war, nachdem sich sein Vater von ihm vor dem Haus von Lu, dem Schamanen, verabschiedet hatte. Das Krankenhaus hatte Donner erst jetzt, einen Tag später, informiert. Demnach hatte sich sein Vater wohl mehr als vierundzwanzig Stunden bei niemandem gemeldet.

Mit quietschenden Reifen fuhr Donner los. Er fürchtete sich vor der Vorstellung, dass die Verbindung zu seinen Eltern endgültig abgerissen war und er sie verloren hatte. Gleichzeitig waren da die feurigen Erinnerungen an die letzte Nacht mit Anne. Wie ihre Haut nach Pfirsich gerochen und sie jede einzelne Narbe an seinem Körper gezählt hatte – einschließlich der, an der Innenseite des Oberschenkels, dicht am Hodensack.

Die schönsten Glücksmomente zerreißt die Realität oft nur Augenblicke, nachdem sie passieren.

Er überholte, ohne zu blinken, und drängelte, während er auf der Bundesstraße am Küchwald vorbeiraste und Richtung Krankenhaus bretterte. Minuten später parkte er den Mitsubishi mit quietschenden Bremsen in einer Bushaltestelle und stürmte die Eingangsstufen zur Klinik empor.

Am Infoschalter herrschte er die Angestellte an, ihm Station und Zimmer zu nennen, wo seine Mutter lag. Den Kopf voll beängstigender Gedankenspiele, drängelte er auf der entsprechenden Etage am Klinikpersonal vorbei, hin zu der Tür, hinter der er seine Mutter finden würde.

»Sind Sie der Sohn von Frau Elke Donner?«, sprach ihn ein Arzt an.

»Lassen Sie mich zu ihr«, stammelte Donner bloß und schob den Mann zu Seite, der trotz der herausragenden Stellung im Zahnwerk des Klinikums eine gewisse Höflichkeit an den Tag gelegt hatte.

»Seien Sie doch vernünftig!«

Der laustarke Befehl des Arztes ließ Donner kurzzeitig sein Temperament vergessen. Er stoppte und drehte sich um. »Was?«

»Also sind Sie Herr Donner, ja oder nein?«

Donner nickte.

»Ich bin der behandelnde Arzt. Ich kann mir vorstellen, welchen Schock Ihnen der Anruf versetzt hat. Ihrer Mutter geht es den Umständen entsprechend gut. Sie ist geschwächt, doch sie befindet sich auf dem Weg der Besserung – zumindest, was die körperlichen Krankheitssymptome anbelangt. Möchten Sie sich auf dem Flur weiter unterhalten oder gehen wir in ein Stationszimmer, damit ich Ihnen alles in Ruhe erklären kann?«

Zum zweiten Mal nickte Donner und folgte schweigend dem Arzt. In einem separaten Zimmer mit einer Liege und einem Desinfektionsmittelspender an der Wand bat ihn der Arzt, Platz zu nehmen.

»Ich stehe lieber«, bekundete Donner, um damit seine Zähigkeit zu demonstrieren.

»Sitzen ist kein Zeichen von Schwäche.« Der Arzt nahm sich einen Stuhl und legte eine Krankenakte auf einen kleinen Tisch, ohne sie aufzuschlagen. Auf dem Deckel stand der Name Elke Donner. »Ihre Mutter wurde gestern kurz nach Mitternacht mit dem Rettungswagen in die Notaufnahme eingeliefert. Sie hatte viel Blut verloren – aufgrund von Schnittwunden an den Handgelenken, die sie sich selbst zugefügt hat.« Er machte eine Pause und beobachtete Donner.

»Und weiter?«

»Wussten Sie von den Depressionen Ihrer Mutter?«

»Logisch! So ein mieser Sohn bin ich nun auch wieder nicht. Nach ihrem Arbeitsunfall und der Querschnittslähmung ist sie im wahrsten Sinne des Wortes nie mehr auf die Beine gekommen. Das Schicksal hat meine Mutter fertiggemacht. Einige Menschen vertragen die Tragödien des Lebens besser, andere schlechter. Einige gehen daran vollends zugrunde. Sie ist eine von denen.«

Der Arzt beugte den Oberkörper vor und schien sich, dem Blick nach zu urteilen, auffällig stark für Donners Gesichtsverletzungen zu interessieren. Bestimmt fragte er sich, welches Schicksal Donner hatte erleiden müssen.

»Haben Sie jemals mit ihr über ihre Suizidgedanken gesprochen?«

Auf diese Frage hatte Donner gewartet. Unangenehm berührt lief er zwei Schritte im Raum auf und ab. Er hatte sich die letzten Jahre kein bisschen um die Sorgen anderer gekümmert. Nach dem Verlust seiner eigenen Familie war er selbst jeden Tag ein Stück gestorben. »Ich bin Polizist, ich arbeite sehr viel.«

»Das kenne ich. Manchmal möchte man über den ganzen Dreck, den der Alltag einem vor die Füße kehrt, einfach hinwegsteigen.«

Donner verstand, was der Arzt ihm damit sagen wollte. »Mein Vater und ich, wir verstehen uns nicht besonders gut. Außerdem hatte ich meine eigenen Probleme. Hören Sie!« Donner ruderte mit einer Hand hilflos in der Luft, weil ihm sonst nichts einfiel. »Das soll keinesfalls wie eine Ausrede klingen, aber ich hatte nicht die Kraft dazu.«

»Sie hatten sicher Ihre Gründe.«

»Und was heißt das jetzt?«

»Ich werde einem Kollegen der neurologischen Abteilung empfehlen, dass man eine neue Therapie unter medizinischer Fachaufsicht in Erwägung zieht.«

»Sie wollen sie erneut in die Klapse einweisen?«

»Haben Sie einen besseren Vorschlag? Der Aufenthalt dort wird begrenzt sein, danach können Sie zeigen, was in Ihnen steckt. In Ihnen und Ihrem Vater, von dem selbst Ihre Kollegen nicht wissen, wo er sich momentan aufhält.«

»Meine Kollegen?«

»So leid es mir tut, Ihr Vater hat zwar die 112 gewählt, andererseits hat er Ihre Mutter mit aufgeschnittenen Pulsadern vor der Wanne liegen gelassen. Somit ist es ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Unterlassene Hilfeleistung. Sie wissen ja, wie das läuft. Aufgrund des Blutverlustes befand sich die Patientin in einem äußerst kritischen Zustand. Zugutehalten wird man Ihrem Vater aber, dass er die Wohnungstür offen gelassen hat, wodurch Retter und Notarzt sofort helfen konnten.«

Ich kann nicht mehr, Erik.

Die Worte seines Vaters hallten wie eine sich selbsterfüllende Prophezeiung in Donners Gehirn. Wie so oft hatte er nicht genau hingehört. Den Hilfeschrei überhört 

»Kann ich sie jetzt sehen?«, sagte er verbittert über die Situation, an der er sich eine Mitschuld gab.

»Natürlich, Sie dürfen sogar mit ihr sprechen. Schenken Sie ihr Mut. Sie schaffen das!«

Donner öffnete die Tür und wollte davoneilen, als der Arzt ihn aufhielt, indem er nachsetzte: »Sie sollten Ihren Vater finden. Ich weiß nicht, warum er den Notruf gewählt und danach seine Frau im Stich gelassen hat, aber wenn ich Sie wäre, würde ich mir ernsthafte Sorgen um ihn machen.«

Blut und böser Mann
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