Kapitel 15

 

»Wenn das Mal kein guter Tag wird«, gab der Kollege vom Kriminaldauerdienst Annegret Kolka zu verstehen, während er das feuchte Erdreich mit Spray fixierte und anschließend zum Spezialgipspulver griff. »Die Schuheindruckspur ist fast vollständig vorhanden.«

Sie nahm es zur Kenntnis. Vielleicht hatten sie Glück und es handelte sich tatsächlich um einen Hinweis. Vielleicht stocherten sie aber auch sprichwörtlich im Morast. Viel aufschlussreicher als die Formspur war da der Schneidezahn, den der Kollege in einer Box gesichert hatte.

Nachdenklich beugte sie sich über den Betonring, der geschätzte vier Meter in die Erde führte. Dank des Tageslichts konnte sie den Grund sehen.

Was hat sich in dem Schacht abgespielt?

Während Kroll die Frischlinge von der Polizeischule herumkommandierte, ärgerte sie sich im Stillen, dass man ihr keinen Fachmann zur Spurensicherung geschickt hatte. Sämtliche verfügbaren Kriminaltechniker der KPI hatte man in die Innenstadt beordert, weil nach Brandner nun angeblich auch Brecht verschwunden war. Laut Aussage des Dienstgruppenführers beim KDD hatte Donner wieder Mist gebaut. Die gesamte Direktion schien daraufhin kopfzustehen.

Eigentlich will ich gar nicht wissen, was Erik angestellt hat.

Später würde sie sich dafür bei Donner bedanken, weil sie, anstatt an einem richtig großen Fall zu arbeiten, bei der Suche nach einem Obdachlosen festhing.

»Kippen sind alle«, maulte Kroll kurz angebunden, als er neben sie trat.

Bereitwillig zog der Kollege vom KDD eine Zigarettenpackung aus der Jackentasche und hielt sie ihm hin.

Gierig wie ein Verdurstender schnappte Kroll mit der Hand nach dem Angebot. »Es geht doch nichts über meine Freunde beim Dauerdienst.«

Kolka verdrehte die Augen, weil er wusste, wie oft er in Wahrheit bei K-Beamten aneckte. Der Satz war offenbar seine Art, danke zu sagen. Beim Anzünden der Zigarette zitterten seine Finger auffällig. Obwohl er vor knapp drei Minuten zuletzt geraucht hatte, schien er an Entzugserscheinungen zu leiden.

Sofort nach dem ersten Zug blieb ihm der Mund offen stehen. Die Kippe löste sich von seinen Lippen und fiel mit einer Pirouette in den Dreck. »Das darf nicht wahr sein!«

»Ist das …?«, wollte Kolka fragen, aber sie war nicht weniger sprachlos über den jungen Mann, der im Gleichschritt neben Lichtenberg auf sie zurannte.

»Levi Hentschel!«, rief Kroll, gleichermaßen mit Ehrfurcht und Geringschätzung in der Stimme.

Während Lichtenberg kaum außer Puste schien, japste Hentschel, als wäre das Duo durch die halbe Stadt gelaufen.

»Wieso trägst du das Wappen des Freistaats und dazu Einsatzstiefel und Einsatzanzug?«, stellte Kroll die völlig unnötige Frage an Hentschel, der offenbar wie alle anderen Auszubildenden von der Polizeischule bei der Suche half.

Auch Kolka kannte den Zwanzigjährigen von früheren Einsätzen. Er tauchte stets da auf, wo man ihn am wenigsten vermutete.

Fast wie ein falscher Fünfziger.

»Wie Sie wissen, Herr Hauptkommissar Kroll, hatte ich mich bei der Polizei beworben«, stammelte Hentschel noch immer außer Atmen. »Und man hat mich genommen.«

Kroll machte einen Schritt auf ihn zu. »Man hat was?«

»Den Ergebnissen nach war ich sogar einer der Besten bei den schriftlichen und psychologischen Tests. Das Einstellungsteam meinte, ich könnte es mal bis zum Landespolizeipräsidenten schaffen.«

Kolka legte eine Hand über ihre Augen.

Hoffentlich bin ich da schon in Pension.

»Genug!«, beendete Lichtenberg das Palaver. »Erzähl uns von deiner Entdeckung.«

»Sie haben recht, Herr Polizeiobermeister Lichtenberg, Entschuldigung!« Hentschel zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung eines Seitengebäudes. »Da hinten ist was!«

»Da hinten?«, trieb Kolka die Erklärung voran.

Urplötzlich presste Hentschel beide Hände auf den Bauch, als hätte er etwas Ungenießbares gegessen. »Da, da … ist lauter Blut … Und ich glaube, es rächt sich gerade, dass ich in der Kantine beim Frühstück so zugeschlagen habe …«

Eine Minute später kniete Kolka am Rand eines verdreckten und blutbesprenkelten Bodens. Unter detaillierter Schilderung seines Fundes hatte Hentschel sie zusammen mit Kroll, Lichtenberg und dem Kollegen vom KDD in einen Raum mit einem gefliesten Becken geführt. Auf den ersten Blick hielt Kolka es für ein kleines Schwimmbecken. Dafür war es jedoch zu flach. Außerdem ließen mehrere Gestängevorrichtungen an der Decke die Vermutung zu, dass man früher an dieser Stelle des Kühlhauses etwas zum Abtropfen aufgehängt hatte.

Unter Anleitung des Kripo-Kollegen untersuchte Kolka jeden Winkel aufmerksam. Zahlreiche Kacheln waren von der Wand gefallen und lagen zerschmettert zwischen allerlei anderem Unrat. Der Raum befand sich in genauso desolatem Zustand wie die gesamte Anlage. Aber das eigentlich Beunruhigende war der Blutteppich. Ein bizarr verschmiertes Panorama, dunkel verfärbt und von fester Konsistenz. Anders als in den übrigen Räumen war hier der metallische Geruch am stärksten ausgeprägt. Der Duft des Blutes und die Fäulnis der Umgebung ergaben eine brechreizerregende Mischung.

»Keine vierundzwanzig Stunden alt«, meinte der Kollege vom Dauerdienst, wobei er mit erhobenem Daumen wackelte.

Vorsichtig sprang Lichtenberg in das Becken. Er schraubte das Licht seine Taschenlampe auf höchste Stufe und machte ein paar Schritte vorwärts.

»Stehen bleiben!«, rief Kolka, als sie etwas entdeckte.

Sofort setzte Lichtenberg einen Fuß zurück. Auch er hatte das Portmonee gesehen. Eine Lederbörse, die zu neu für die Umgebung aussah und aus der die Ecke eines Zwanzig-Euro-Scheins herausschaute.

»Liegen lassen!«, gab der Kollege Anweisung, der zuvor die Spuren am Schacht gesichert hatte. »Alles deutet darauf hin, dass wir hier einen Tatort haben. Also behandeln wir ihn auch wie einen. Ab sofort gehen wir systematisch vor.«

»Das sieht mir nicht nach der Geldbörse von Luis Reich aus.«

»Kann ich erstmal an die frische Luft?«, fragte Hentschel und würgte.

Kroll verabschiedete ihn, klopfte ihm einmal kräftig auf den Rücken und rief ihm hinter: »Wenn du vor deinen Mitschülern kotzt, wird man später über dich als Landespolizeipräsidenten Tränen lachen.«

Kolka sah auf ihre Uhr. Einen pünktlichen Feierabend konnte sie sich abschminken. Dabei hatte sie ihrem Sohn Malte versprochen, seit Langem endlich wieder mit ihm ins Kino zu gehen. Sie selbst hatte ihn dazu überreden müssen, denn am Anfang hatte er sich gesträubt.

»Mit der eigenen Mutter ins Kino ist doch voll peinlich!«, hatte er im typischen Teenager-Jargon gemault.

Na ja, vielleicht war das keine so gute Idee. Aber er wird es überleben.

»Was ist das?«, fragte sie auf einmal. Sie bildete sich ein, ein Klappern zu vernehmen.

Die Umstehenden sahen sich an. Sie erkannte die fragenden Blicke.

»Warum flüsterst du auf einmal?«, wollte Kroll wissen, sah sich aber ebenfalls um, was sie meinen könnte.

»Hört ihr nicht das Kratzen?« Sie ging in die Hocke, da es sich anhörte, als käme es direkt vom Boden.

Als alle die Luft anhielten, hatte auch das Geräusch aufgehört.

Nach einer Weile des Lauschens zuckte sie mit den Schultern. »Ich habe mich wohl geirrt …«

Plötzlich ertönte das metallische Kratzen erneut. Es kam eindeutig aus dem Bereich unter ihr. Hastig sprang sie von der Kante und steuerte zielstrebig auf ein Gitter am Beckenrand zu.

Blut und böser Mann
titlepage.xhtml
index_split_000.html
index_split_001.html
index_split_002.html
index_split_003.html
index_split_004.html
index_split_005.html
index_split_006.html
index_split_007.html
index_split_008.html
index_split_009.html
index_split_010.html
index_split_011.html
index_split_012.html
index_split_013.html
index_split_014.html
index_split_015.html
index_split_016.html
index_split_017.html
index_split_018.html
index_split_019.html
index_split_020.html
index_split_021.html
index_split_022.html
index_split_023.html
index_split_024.html
index_split_025.html
index_split_026.html
index_split_027.html
index_split_028.html
index_split_029.html
index_split_030.html
index_split_031.html
index_split_032.html
index_split_033.html
index_split_034.html
index_split_035.html
index_split_036.html
index_split_037.html
index_split_038.html
index_split_039.html
index_split_040.html
index_split_041.html
index_split_042.html
index_split_043.html
index_split_044.html
index_split_045.html
index_split_046.html
index_split_047.html
index_split_048.html
index_split_049.html
index_split_050.html
index_split_051.html
index_split_052.html
index_split_053.html
index_split_054.html
index_split_055.html
index_split_056.html
index_split_057.html
index_split_058.html
index_split_059.html
index_split_060.html
index_split_061.html
index_split_062.html
index_split_063.html
index_split_064.html
index_split_065.html
index_split_066.html
index_split_067.html
index_split_068.html
index_split_069.html
index_split_070.html
index_split_071.html
index_split_072.html
index_split_073.html