Kapitel 16
Bitterkalt.
Lilly Brandner sang immerzu Bitterkalt. Eigentlich waren ihre Stimmbänder längst erfroren. In Wahrheit sangen nur ihre Zähne, die unaufhörlich aufeinanderschlugen. Der winzige Tunnel, der ihre Welt umgab, verstärkte jede Silbe, jeden Ton zu einem grenzenlosen Echo.
Bitterkalt.
BITTERKALT.
Jede einzelne Stelle ihres dürren Körpers schrie um Hilfe. Sosehr sie sich anstrengte, ihre Finger auszustrecken, sie blieben krumm. Wenn sie es mit Gewalt versuchte, würden sie zerbrechen. Wie Glasstäbe oder Salzstangen. Die Kälte hatte sich bis zu ihrem Herzen vorgearbeitet, um es in ein Frostgefängnis zu sperren. Ihr Herz hatte längst aufgehört zu schlagen. Weil es sich vor der Kälte versteckt hielt.
Kein Ton. Bloß keinen Ton!
Die Insekten hatten eine Zeit lang mitgesungen. Sie hatten gezirpt und getuschelt. Später war eine Maus gekommen. Vielleicht war es auch eine Ratte oder ein Marder gewesen. Lilly hatte das Tier aufgrund der Finsternis nicht richtig erkennen können. Nur das Tippeln von kleinen krallenartigen Pfoten hatte sie gehört und auch das Fell gespürt. Fell, das nass und glitschig ihr Bein gestreift hatte.
Sie kannte die Schnüffelgeräusche von solchen Nagetieren aus dem Fernsehen. Eine Ratte ist hässlich. Das liegt vor allem am dicken, haarlosen Schwanz. Das Tier hatte leise gequiekt, Lillys nackte Füße mit seiner feuchten Schnauze berührt, und war dann weggelaufen.
Vielleicht war das Ganze hier auch nur ein Traum. Ein quälender, nasskalter Traum. Vielleicht war es dem bösen Mann gelungen, sich in eine Ratte zu verwandeln, um Lilly aus ihrem Versteck zu treiben.
Lilly dachte daran, wie er sie aufgefordert hatte, zu ihm zurückzukriechen. Die Ratte konnte sprechen.
»Bleib, wo du bist! Ich hol dich aus dem Schacht«, hatte die Ratte gerufen.
Jedes Wort hatte Lilly erzittern lassen.
Bitterkalt.
Sie musste raus aus dem Tunnel. Jetzt gleich! Bevor der Weg zu Eis wurde.
Ihre Mutter hatte gezittert, als Lilly die rostigen Schrauben am Gitter abgebrochen hatte und in das Loch gestiegen war. Mutter hatte versprochen, sie würde nachkommen, zusammen mit Papa. Doch in Wahrheit war der Tunnel zu schmal für einen Erwachsenen. Längst hatte Lilly die Fesseln an den Gelenken der Mutter gesehen. Die gleiche Sorte, mit der man auch sie festgeknotet hatte. Ihren Fesseln war Lilly entschlüpft. Der Schmerz an den Handgelenken war allerdings geblieben.
Lilly hob leicht den Kopf. Auf einmal drangen Stimmen durch die Tunnelröhre. Der Schlamm schien zu sprechen. Mal klang er wie eine Frauenstimme, mal wie die eines Mannes.
Mama und Papa!
Endlich! Beide hatten es geschafft, hinter die Gitteröffnung zu schlüpfen. Mit ihren krummen Fingern und den wundgeriebenen Knien zog und schob sich Lilly vorwärts. Sie musste ins Licht, damit ihre Eltern sie sehen konnten. Als würde sie durch Feuer schwimmen, kroch sie Stück für Stück weiter. Ihre Haut brannte, aber verbrennen war besser, als zu erfrieren.
Bitterheiß.
Das Wort wirkte erwärmend auf sie. Es tat weh und es trieb sie an, während bitterkalt sie erschöpfte. Sie hatte gelernt, dass man vor dem Feuer fliehen musste. Das tat sie.
Ihre Finger- und Fußnägel schabten entlang der Tunnelwände. Ein weißgoldener Schimmer zeigte sich in der Ferne. Licht wie durch ein Sieb. Da war ein weiteres Gitter. Dahinter nahmen die Stimmen an Lautstärke zu.
Konnte der böse Mann mit mehr als einer Stimme reden? Sogar mit der ihrer Mutter?
Das war doch Mutters Stimme, oder täuschte sie sich?
Sie lauschte und auf einmal war sie sich unsicher.
Bevor sie eine Antwort fand, wurde das Gitter heruntergerissen und das Licht verbrannte ihre Augen bitterheiß.