Kapitel 9
Wieder rückte der große Uhrzeiger eine Minute vor. Die Bedienung entfernte sich von Donners Tisch. Es gab nicht viele öffentliche Orte, an denen er längere Zeit verweilte. Dieses Lokal zählte zu den wenigen Ausnahmen. Die Besitzerin war eine ehemalige Sängerin, die noch wusste, dass gute Musik aus bleibenden Emotionen bestand. An manchen Tagen schnappte sie sich das Mikrofon und sang für ihre Gäste. Untermalt von Gitarrenakkorden gab die alte Reibeisenstimme dann immer Vollgas.
Die junge Kellnerin schien dagegen erst seit ein paar Wochen im Lokal zu arbeiten. Trotz seiner abschreckenden Erscheinung und der kurzangebundenen Sprechweise hatte sie tapfer gelächelt.
Beim dritten Anlauf hatte sie mit ihrer Fragerei Erfolg gehabt.
Sie hat zu schnell und zu oft geblinzelt. Eines von fünf Anzeichen, dass ihr meine Anwesenheit Unbehagen bereitet.
Er hatte sie nicht weiter quälen wollen. Inzwischen saß er seit dreiundzwanzig Minuten in dem Café. Die Kaffeetasse hatte er mittlerweile zweimal geleert.
Klemens Brecht kam nicht.
Dabei hatte Donner die dunkle Limousine vor exakt einer Viertelstunde in die Tiefgarage abbiegen sehen. Um einen guten Blickwinkel über den Platz vor der Stadthalle zu haben, hatte er sich direkt an die Fensterfront des Cafés gesetzt.
CX1. Die Initialen des Unternehmens hatte Donner auf dem Kennzeichen deutlich ablesen können.
Ein typischer blasierter Geschäftsmann. Die Nummer eins in Pünktlichkeit wird der jedenfalls nicht mehr.
Donner reichte es. Selbst wenn Brecht an Krücken lief, brauchte der Unternehmer weniger als zehn Minuten bis zum Treffpunkt. Sicherheitshalber prüfte Donner seine Armbanduhr und verglich die Zeiger mit denen an der Wand. Er kratzte die letzten Euro zusammen, zitierte die Bedienung zu sich, schob das Geld über den Tisch und verließ das Lokal mit schnellen Schritten Richtung Tiefgarage.
Zu dieser Tageszeit war der Andrang bei den Parkplätzen überschaubar. Vom Café bis in das unterste Stockwerk, den Bordstein der Fahrzeugrampe entlang, waren ihm gerade einmal zwei Autos begegnet. Er hörte seine eigenen Schuhabsätze, so still ging es hier unten zu. Lediglich aus versteckten Lautsprechern spielte dezente Musik. Ein Lied, das er nicht kannte. Vermutlich aus den aktuellen Charts.
Reihe für Reihe suchte er die Parkflächen nach Brechts Limousine ab. Langsam wurde er ungeduldig. Er hatte sich unmöglich getäuscht. Das Fahrzeug hatte die Einfahrt zur Tiefgarage genommen.
Eine Minute später entdeckte er das auffällige Kennzeichen. Die Limousine parkte in einer der hintersten Ecken. Das Heck des extra langen Schlittens ragte ein gutes Stück in die Fahrbahn. Der Motor und die Lichter waren aus. Donner beschleunigte seinen Gang. Das Echo seiner Schritte hallte hektisch zwischen den Betonpfeilern. Noch zehn Meter verblieben. Keine Person zu sehen. Die Hintertür stand offen.
Als er das Heck erreichte, verlangsamte er das Tempo. Er lief um das Fahrzeug herum und entdeckte einen reglosen Mann am Boden. Auf der Suche nach einer Bedrohung spähte er umher. Als er sich unbeobachtet fühlte, bückte Donner sich und prüfte die Vitalfunktionen des Bewusstlosen.
Puls vorhanden. Atmung ebenfalls.
»Komm schon, kratz mir nicht ab!«
In typischer Donner-Erste-Hilfe-Manier packte er den Mann grob am Jackettkragen und schüttelte ihn. Ein älterer gepflegter Herr mit kräftiger Brust- und Schultermuskulatur. Vermutlich der Chauffeur von Brecht. Die dunkle Schirmmütze war ihm vom Kopf gerutscht und lag nun direkt neben ihm.
Wo ist Brecht?
Donner versuchte mit dem Knie, den Nacken des Mannes zu stabilisieren. Kurzzeitig sah es so aus, als flackerten dessen Augenlider. Da entdeckte Donner frisches Blut im Haar des Mannes. Vorsichtig inspizierte er den Schädel, um nicht mit dem Blut in Kontakt zu kommen. Es sah nach einer Platzwunde am Hinterkopf aus.
Donners Blick glitt über den Boden, ob es Spuren von einer Aufprallstelle gab. Höchstwahrscheinlich stammte die Verletzung von einem Schlag mittels eines Gegenstands.
Plötzlich keuchte der Mann.
»Hey, hören Sie mich?«, blaffte Donner ihn an.
Mühsam schlug der Mann die Augen auf. Donner half ihm in eine sitzende Position, lehnte ihn mit dem Rücken gegen die Karosserie.
»Es geht schon«, japste der Mann.
Das ließ sich Donner nicht zweimal sagen. »Wer sind Sie?«
»Anton Below. Ich bin Anton Below. Der Fahrer von Herrn Brecht.« Er sagte es mit dezent osteuropäischem Akzent. Dass er seinen Namen noch wusste, wertete Donner als ein gutes Zeichen.
Er verschwendete keine Zeit, sondern machte sich daran, das Innere der Limousine zu ergründen.
»Was ist mit Klemens Brecht geschehen?«, fragte er. »Verflucht, wo ist Ihr Chef?«
Es dauerte eine Weile, bis Below begriff. Dann versuchte er aufzustehen, doch seine Beine versagten ihm beim ersten Mal den Dienst. Beim zweiten Versuch zog er sich am Außenspiegel nach oben. Er wankte wie ein Betrunkener.
»Sie sollten vorsichtig machen.«
»Verdammt, man hat uns überfallen!« Er klang hysterisch. Beidhändig raufte er sich das Haar.
»Ich würde da nicht anfass…«
Zu spät. Das Blut von der Wunde zierte bereits dickflüssig glänzend seine Fingerkuppen. Als er das Blut sah, taumelte er nach hinten. Donner schmiss die Fahrertür zu und sprang Below zu Hilfe. Beim Zuknallen der Tür flatterte ein grüner Zettel aus dem Fahrzeuginneren.
»Geht es wieder?«, versicherte sich Donner, nachdem er Below an einen Betonpfeiler abgesetzt hatte.
Below nickte schwach. »Man wird mich feuern! Erst verschwindet Herr Felix Brandner und jetzt habe ich keine Obacht auf Herrn Brecht gegeben. Dabei bin ich sein Fahrer. Wir müssen die Polizei rufen. Sofort!« Er zog ein weißes Stofftaschentuch hervor und schnäuzte die Nase. Anschließend presste er es auf die Wunde.
»Ganz ruhig!« Donner bückte sich nach dem grünen Blatt Papier, warf einen flüchtigen Blick darauf und steckte es ein. »Ich bin Polizist.«
»Sie?«
Donner hatte damit gerechnet, dass der Kerl ihm wenig glauben schenkte. Er schwang herum und packte Below erneut am Kragen. Der verdrehte ungesund die Augen.
»Hören Sie zu«, raunte Donner. »Warum habe Sie den Wagen ausgerechnet in dieser Ecke geparkt? Am weitesten entfernt von den Fahrstühlen.«
»Ich kann mich nicht …«
Donner gab mehr Druck auf den Kleidungsstoff. »Denken Sie nach!«
»Herr Brecht wies mich an, hier zu parken. Ich wollte …«
Plötzlich stockte sein Atem.
»Ja?«, fragte Donner. »Sie wollten was?« Dann folgte er dem erstarrten Blick von Below und spähte über seine Schulter.
Aus dem Hinterhalt fielen zwei Männer über ihn her.