Kapitel 5

 

Kurz vor neun Uhr. Später als alle Tage zuvor erreichte Donner die Tiefgarage des Betonklotzes, in dem sich diverse Serviceunternehmen und sein Büro befanden. Kaum hatte er den Motor abgestellt, klingelte das Diensthandy. Egal, wer ihn sprechen wollte, derjenige würde viel Geduld brauchen.

Das hat man nun von seiner Gutmütigkeit. Sobald man das Gerät eingeschaltet lässt, mutiert man zum 24-Stunden-Polizisten.

Sein privates Handy hatte nach zehn Jahren den Geist aufgegeben. Nur deshalb schleppte er das Diensthandy mit sich herum. Am liebsten wollte er heute für niemanden erreichbar sein. Das Gespräch mit der Polizeipräsidentin vom Vortag drückte schwer auf seine Kriminalistenseele.

Sachbeschädigungen! Ein Berg an unbekannten Fällen.

Spätestens jetzt war er wirklich ganz unten auf der Karriereleiter angekommen.

Als er im Erdgeschoss den Fahrstuhl einstieg, klingelte es erneut. Er schenkte dem Anruf keine Beachtung, sondern stierte lustlos die Blechverkleidung des Aufzuges an. Bald fuhren die Türen auseinander und er schlurfte über den Gang. Zwei Angestellte der auf gleicher Etage befindlichen Versicherung wichen ihm aus. Sie gaben so etwas wie einen Guten-Morgen-Gruß von sich. Donner knurrte zurück.

In der Nacht hatte er mehrfach auf den Wecker gesehen. Mit jeder Stunde waren die Kopfschmerzen angestiegen. Unrasiert, ungekämmt und mit leerem Magen kramte er den Schlüssel zum Büro aus seiner Manteltasche. Abermals klingelte es. Für einen kurzen Moment war er gewillt, das Gespräch anzunehmen, um endlich Ruhe zu haben.

Dann bemerkte er sie.

Im knappen Rock und auch sonst für das Wetter deutlich zu dünn angezogen, stand ein blutjunges Ding auf dem Flur. Er schätzte die Dame auf Anfang zwanzig. Sie kaute Kaugummi. Ein Loch verunstaltete ihre Strumpfhose. Aber das gehörte wohl zum Modetrend. Einseitig über dem Ohr hatte sie die Haare abrasiert. Früher trugen nur Punker ihre Frisuren auf diese Weise. Mittlerweile sah Donner das häufiger bei den Jugendlichen. Besonders bei denen, die Tag für Tag vor der angrenzenden Stadthalle rumlungerten. Die Dame machte einen ganz und gar exzentrischen Eindruck. Am verrücktesten fand er allerdings die orangefarbene Tönung ihrer Mähne.

Weil sie nicht zur Seite ging, als er vor sein Büro trat, blaffte er sie an: »Haben Sie sich in der Tür geirrt?«

»Tragen Sie immer zwei verschiedene Schuhe?«

Erschrocken schaute er auf seine Schuhspitzen. Alles in bester Ordnung. Bis auf den Schmutz

»Sehr witzig!«

»Sie haben doch mit dem Spaß angefangen.« Auffordernd hielt sie ihm die Hand hin.

Er ging nicht auf das Händeschütteln ein, weil er ihr nicht wehtun wollte. Ihr Handgelenk sah ziemlich zerbrechlich aus.

»Nina Richter, Sie sollen mir etwas beibringen.«

»Sind Sie etwa die Praktikantin?«

»Wow, so fix wie Sie das rausgefunden haben, werde ich bestimmt jede Menge von Ihnen lernen können.«

Donner drehte den Schlüssel im Schloss und gab der Bürotür einen Schubs. Er hätte ihren Handschlag nicht ablehnen und ihr gleich bei der Begrüßung das Gelenk brechen sollen. Dann hätte er Miss Farblocke wenigstens sofort zum Arzt schicken können.

»Sie machen nicht den Eindruck, als wären Sie ein knallharter Bulle.«

Beleidigt fuhr er herum. Sie trat ganz dicht an ihn heran. Ihm fiel auf, dass sie ihre Sommerjacke bereits abgelegt hatte und nun eine Bluse präsentierte, deren oberste Knöpfe offen standen.

»Wie sieht denn deiner Meinung nach ein knallharter Bulle aus?«

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie sind groß und – nach dem zu urteilen, was ich sehe – gut gebaut …«

Donner zog den Bauch ein Stück ein und versuchte, Abstand zu der aufdringlichen Person zu gewinnen, indem er einen Schritt zurücksetzte.

»… aber irgendwie, na ja … wirken Sie schlaff …«

Schlaff …

»Und völlig fertig.«

Fertig …

Jetzt fing sie an, ihm wirklich auf die Nerven zu gehen. Zudem stand sie offensichtlich darauf, ihn zu siezen.

»Für diese Tarnung habe ich jahrelang hart geackert, Miss Siebengescheit. So ist das, wenn man täglich im Dreck wühlt. Kennst du den Sinnspruch: Schwitzen für den Freistaat?«

Sie trat aufreizend näher. Ihre Nasenflügel zuckten. »Soso, im Dreck gewühlt Welches Aftershave benutzen Sie? Ist das Hugo Boss?«

Donnerwetter, das kleine Luder gibt wirklich Vollgas! Zeit, auf die Bremse zu treten.

Er ging um den Schreibtisch herum, sie machte Anstalten, ihm wie eine läufige Hündin nachzustellen, blieb dann aber auf der anderen Seite stehen. Er setzte sich.

»Wie alt bist du?«

»Dreiundzwanzig.«

»Und was hast du vorher gemacht?«

»Tabledance.« Sie erwähnte es wie beiläufig. Zusätzlich beugte sie sich über den Tisch, was den Blick auf viel freie Haut vergrößerte.

Scheiße, die testet mich doch! Und sie klimpert mit den Augen. Was für eine Szene!

Um nicht als prüde dazustehen, sagte er leidenschaftslos: »Aha.«

Den Blick vom Ausschnitt abwendend, verkroch er sich hinter dem Monitor. Den Rechner zu starten, war jedoch keine Alternative zu dem Gespräch mit Nina Richter, denn auf dem Direktionsserver lauerten jede Menge ungelöste Fälle, auf die er keine Lust verspürte. Und auf Dauer konnte er sich der Anwesenheit der Praktikantin sowieso nicht entziehen. Schon in der Verpackung sah man, dass sie feste, griffige Brüste besaß. Donner war auch nur ein Mann. Er kam nicht umhin, die Dame zuerst nach ihrem Äußeren zu bewerten.

Obwohl ihre große Klappe natürlich als Allererstes auffällt.

»Warum bist du zur Polizei gewechselt? Ich meine, Tanzen ist ja quasi eine Lebensphilosophie.«

»Ach, eines Tages lief da im Internet diese Nachwuchswerbung für die Polizei: Kein Job wie tausend andere. Da habe ich mich aus einer Laune heraus beworben. Was soll ich sagen? Hier bin ich nun.«

Das Handy klingelte zum vierten Mal. Ehe er darüber nachdenken konnte, drückte er die grüne Taste. Er drehte sich weg von der Praktikantin und raunte ein paar Worte in das Mobiltelefon.

»Herr Donner?«

»Ja, wer ist denn da?«

»Hier ist Alma! Alma und Luis. Sie haben uns damals Ihre Karte gegeben.«

Derartige Leichtsinnigkeiten passieren mir heute zum Glück nicht mehr.

Es dauerte eine Weile, bis es bei ihm klick machte. »Alma Reich?«

»Sie haben mir und meinem Mann damals diese Unterkunft besorgt, als wir in der Stadt fast zwanzig Grad minus hatten. Erinnern Sie sich, Herr Donner?«

Das obdachlose Ehepaar war ziemlich schräg gewesen. Allerdings auch irgendwie liebenswert. Und das konnte er nur von den wenigsten Menschen behaupten. »Keine Sorge, es ist Frühling. In ein paar Tagen schnellt das Thermometer sowieso in die Höhe. Da brauchen Sie keine muffelige Bude voller gescheiterter Existenzen«, versuchte er die Arbeit von sich zu schieben, weil er davon ausging, die beiden brauchten erneut seine Hilfe bei der Wohnungssuche.

»Also es geht um Luis. Er ist weg.«

Donner verarbeitete die Information und fand nicht, dass Frau Reich deswegen bei ihm anrufen musste. »Ich bin sicher, er taucht wieder auf.«

»Nein, bitte, Herr Donner, legen Sie nicht auf. Ich mache mir große Sorgen, er wollte zum alten Schlachthof. Wegen Metall und so … Er ist gestern Abend nicht zurückgekommen.«

»Warum wählen Sie nicht die 110? Immerhin ist die Nummer kostenfrei.«

»Wer nimmt denn dort eine Obdachlose ernst?«

Tja, wer macht das schon?

»Bitte helfen Sie mir! Bitte, ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.«

Zehn Sekunden später beendet Donner das Gespräch, nachdem er ein Versprechen gegeben hatte. Er grübelte über den seltsamen Hilferuf nach. Erst als Nina Richters Bein sein Knie berührte, registrierte er, dass sie um den Tisch geschlichen war.

»Also, wie läuft das jetzt mit uns beiden, Herr Kriminalhauptkommissar? Soll ich für Sie Uniform anziehen?«

»Was?«

»Ich frage nur, könnte ja sein, dass Sie strengen Wert auf Uniform legen.«

Blut und böser Mann
titlepage.xhtml
index_split_000.html
index_split_001.html
index_split_002.html
index_split_003.html
index_split_004.html
index_split_005.html
index_split_006.html
index_split_007.html
index_split_008.html
index_split_009.html
index_split_010.html
index_split_011.html
index_split_012.html
index_split_013.html
index_split_014.html
index_split_015.html
index_split_016.html
index_split_017.html
index_split_018.html
index_split_019.html
index_split_020.html
index_split_021.html
index_split_022.html
index_split_023.html
index_split_024.html
index_split_025.html
index_split_026.html
index_split_027.html
index_split_028.html
index_split_029.html
index_split_030.html
index_split_031.html
index_split_032.html
index_split_033.html
index_split_034.html
index_split_035.html
index_split_036.html
index_split_037.html
index_split_038.html
index_split_039.html
index_split_040.html
index_split_041.html
index_split_042.html
index_split_043.html
index_split_044.html
index_split_045.html
index_split_046.html
index_split_047.html
index_split_048.html
index_split_049.html
index_split_050.html
index_split_051.html
index_split_052.html
index_split_053.html
index_split_054.html
index_split_055.html
index_split_056.html
index_split_057.html
index_split_058.html
index_split_059.html
index_split_060.html
index_split_061.html
index_split_062.html
index_split_063.html
index_split_064.html
index_split_065.html
index_split_066.html
index_split_067.html
index_split_068.html
index_split_069.html
index_split_070.html
index_split_071.html
index_split_072.html
index_split_073.html