Kapitel 66
Nein, Donner war nicht im Wald gestorben, wie er angenommen hatte.
Acht Stunden nachdem Felix Brandner spurlos verschwunden und er neben dem mit einem Kopfschuss getöteten Igor aufgewacht war, betrat Donner allein das ehemalige Pfandhaus. Der Geruch des kalten, feuchten Mauerwerks erinnerte ihn an den Tag, an dem er Lu befreit und Anton Below ihn außer Gefecht gesetzt hatte.
Diesmal würde er sich hoffentlich nicht mit irgendwelchen russischen Folterknechten prügeln müssen. Weder verspürte er Lust darauf noch fühlte er sich dazu in der Lage. Sein linker Arm hing in einer Schiene und der verrutschte Lendenwirbel kniff bei jedem Schritt. Zu allem Überfluss schmeckte er auf der Zunge noch immer das Betäubungsmittel, mit welchem Rammler ihn narkotisiert hatte.
Er leckte sich die Lippen, um den Geschmack loszuwerden, und wünschte dem BKA-Mann alles Schlechte der Welt.
Man sieht sich stets zweimal im Leben.
Wobei er keinen gesteigerten Wert darauf legte, den aufgeblasenen Schönling wiederzusehen. Im Prinzip war es ihm sogar recht, von Bundesbehörden demnächst höchstens aus dem Fernsehen zu hören.
Ohne lange zu überlegen, ging er in den Keller. Dorthin schleppten die meisten Leute ihre Leichen, wenn man dem Sprichwort folgte. Und das hatte Donner im Laufe seiner Zeit beim K11 gelernt: Es gibt genügend Leichen in deutschen Kellern.
Quietschend öffnete er die Tür, die beim letzten Mal offen gestanden hatte. In dem Abstellraum stand noch immer der Tisch haargenau an der Stelle, wo Igor Lu gefoltert hatte. Lediglich die Nägel hatten die Kriminaltechniker aus dem Holz entfernt. Die dunklen Blutflecken hatte dagegen niemand beseitigt.
Donner betrachtete die Regale und die Ecken, dann öffnete er die Tür zum Nebenraum, in dem er einst das Telefonat mit Felix Brandner geführt hatte. Allerdings fand er auch hier keine Leiche.
Vermutlich könnte Donner das gesamte Gebäude auf den Kopf stellen und würde niemals den ermordeten Klemens Brecht finden, wie Anton Below behauptet hatte. Der vermeintliche Chauffeur und Ex-KGB-Agent hatte gelogen – genau wie Rammler. Donner war auf zwei Ganoven hereingefallen. Dabei hatten ihn seine Instinkte rechtzeitig gewarnt.
Eigentlich warnen mich meine Antennen ständig vor meinen Mitmenschen. Die Welt ist eben eine Party für Gauner. So viele Leute kann man gar nicht hinter Schloss und Riegel bringen.
Zum Glück hatte Donner es unterlassen, der Mordkommission von der zweifelhaften Aussage Belows zu erzählen. Seine Ex-Kollegen hätten dem Hinweis sonst nachgehen und das Pfandhaus durchsuchen müssen. Nach der Enttäuschung hätte man Donner vollends als unzurechnungsfähig erklärt. Bereits bei der Befragung nach dem blutigen Drama in der Todeszone hatten seine Ausführungen nicht zu den Fakten gepasst, welche sich der Soko am Tatort geboten hatten. Allein der tote Russe, der sich angeblich selbst den Schädel weggeblasen haben sollte, stand im Kontrast zu Donners Aussage vom Zweikampf mit Brandner.
Rammler hatte die Tatsachen verdreht, Tatorte verändert, Spuren verwischt und falsche Beweise gelegt. Und alle hatten ihm geglaubt. Schließlich war er vom BKA. Ihn behandelte man als verlässlichen Zeugen, während Donner und Anne als arme Irre galten.
Und Donner ahnte, weshalb Rammler all das arrangiert hatte. Er war Teil einer geheimen Mission gewesen. Er hatte Below geholfen, Rache für irgendeine tote russische Familie zu nehmen. Wenn das BKA ein solches Vorgehen duldete, war es eine fragwürdige Institution. Aber die Wahrheit würde Donner nie erfahren, außer Rammler legte eine Beichte ab. Ihm und Below war es von Anfang an nur um die beiden CORWEX-Geschäftsführer und um den Russen gegangen.
Das Ablenkungsmanöver in der Tiefgarage war Below meisterlich gelungen. Brecht hatte nie in der Limousine gesessen. Sogar die Platzwunde am Kopf hatte sich der falsche Chauffeur selbst zugeführt. Alle hatte er genarrt.
Unzufrieden damit, auf Belows Spiel hereingefallen zu sein, wollte Donner den Keller und anschließend das Pfandhaus verlassen. Aber als er die Hand auf den Lichtschalter legte, vernahm er das Brummen des kleinen Kühlschranks. Das Kompressorgeräusch ließ ihn innehalten. Beim letzten Mal hatten die Ermittler im Inneren nur Party-Eiswürfel und eine überlagerte Flasche Bier der Marke Braustolz gefunden.
Magisch von dem Kasten angezogen, ging Donner zurück in den Raum. Der Kühlschrank war groß genug, dass man den Kopf eines Menschen plus ein paar andere Gliedmaßen hineintun konnte.
Wenn man alles in handliche Portionen schneidet …
Er verzichtete darauf, ein Taschentuch vor die Nase zu nehmen. Fäulnis- und Verwesungsgeruch machten ihm in der Regel wenig aus. In dieser Hinsicht stammte er wohl von einer Fliege ab.
Außerdem muss ich ein lebenslanges Trauma bei dem Gedanken an Taschentücher verarbeiten.
Er wischte den Gedanken beiseite, wie Rammler ihn mit einem billigen Hasenohrentrick überlistet hatte, und riss in Erwartung eines schrecklichen Anblicks die Kühlschranktür auf. Die Erkenntnis, dass Below darin auch eine Sprengvorrichtung hätte einbauen können, kam ihm erst, als er auf den in Folie eingefassten Brief stierte.
Donner kratzte sich am Kopf und griff schließlich in das ungewöhnliche Postfach. »Noch mehr Überraschungen überlebe ich nicht.«
Das Präsent fühlte sich kühl an. Die windschiefe Handschrift war kaum zu lesen. Hinzu kam, dass die Tinte an den Rändern aufgrund der Feuchtigkeit leicht verwischte. Keine Anrede, keine Begrüßung. Donner gab sich Mühe, die wenigen Zeilen zu entziffern. Die Nachricht war eindeutig für ihn bestimmt. Daran hegte er keine Zweifel.
Weil mein Deutsch unausgereift ist und meine Unterarme vor Kurzem eine Nagelprobe bestehen mussten, bitte ich die Unsauberkeit der Schrift zu entschuldigen.
Wenn Sie das lesen, bin ich bereits auf der Rückreise in meine Heimat. Nach fünf Jahren darf ich endlich zurückkehren. Ihr Land ist kälter als Russland. Wussten Sie das? Böse Menschen gibt es überall auf der Welt, doch ihr Deutschen besitzt einfach keine richtigen Ideale. Außer Fußball vielleicht. Fußball ist euer Ding. Ansonsten seid ihr seelenlos.
Bis auf ein paar Ausnahmen vielleicht.
An diesem Punkt musste Donner bitter schmunzeln. Es waren Belows eigene Landsmänner, die als S65-Gruppe Menschen verschleppt und anschließend auf perverse Art getötet hatten.
Ich kann nicht behaupten, dass es meinen beiden Reisebegleitern ebenso gutgeht. Ich glaube, das liegt an den Nadeln. Können Sie sich vorstellen, wie unangenehm es ist, wenn man tausend Kilometer mit solchen Metalldingern unter den Fingernägeln still liegen muss? Sie können sich nicht einmal kratzen. Hinzu kommen ein zertrümmerter Unterkiefer und ein paar fehlende Zähne. Gute Arbeit!
Donner dachte an Brecht und Brandner und fragte sich, ob sie diese Strafe verdienten. Einmal mehr fand er keine zufriedenstellende Antwort.
Jedenfalls danke ich Ihnen von Herzen für Ihre Hilfe! Dank Ihrer Hartnäckigkeit kann ich ein Versprechen einlösen. Bald darf ich einem Familienvater einen letzten Dienst erweisen. Danach bin ich entlassen. Es wird Zeit für mich, in den Ruhestand zu treten – und für einen neuen Namen.
Außerdem soll ich Ihnen sagen, dass Sie meinem »Partner« die Sache mit dem Narkotikum nicht allzu übel nehmen sollen.
Das war’s. Keine Verabschiedung, kein letzter Gruß. Anton Below hatte einfach aufgehört zu schreiben.
Unzufrieden mit der Botschaft zerknitterte Donner den Brief, um ihn zurück in den Kühlschrank zu werfen. Schließlich überdachte er den Entschluss und knüllte das Schriftstück in der Manteltasche zusammen.
Er fragte sich, wie die Sache ohne Below ausgegangen wäre. Vermutlich hätte Brandner seinen einstigen Partner, dessen Familie und seine eigene in die Todeszone bringen lassen – mithilfe von Igor, dem Nagel. Brandner war schon immer ein Wahnsinniger gewesen und das Wissen um die falsche Tochter hatte ihm den Rest gegeben.
Bevor Donner den Keller verließ, schaute er auf seine Uhr.
Ob Brandner und Brecht in dieser Minute noch lebten?