Kapitel 35

 

Drei Anläufe brauchte Donner, dann gab die Wohnungstür unter der Wucht der Tritte nach. Zu seiner Verwunderung war nicht das Türschloss das schwächste Glied, sondern die Scharniere auf der gegenüberliegenden Seite. Die Metallstifte rutschten komplett aus dem Holz raus.

Lange hielt er sich nicht mit dem Phänomen auf. Er drückte das Brett vollständig auf und stürmte in den Flur. Anne folgte ihm mit gezogener Pistole. Derweil gaben sich Franz Donner und die Tür gegenseitig Halt.

Mit fünf, sechs Schritten hatte Donner sich einen Überblick in der Zweiraumwohnung verschafft. Niemand befand sich innerhalb der Räume. Die Ernüchterung stand jedoch in keinem Verhältnis zu der Verwunderung, die ihn ergriff, als er die Einrichtung betrachtete. Die spärlich vorhandenen Schränke und Regale waren allesamt leergeräumt. Blanke Glühbirnen hingen von den Decken.

Er warf einen Blick in die Küche. Herd und Spüle strahlten vor Sauberkeit. Offenbar hatte Below – oder wer sonst hier wohnte – kurz zuvor alle Oberflächen gesäubert. Weder nahm man den Geruch von eingebrannten Essensresten an den Herdplatten wahr noch von Abfall oder gar getragener Wäsche. Lediglich aus dem offen stehenden Bad verbreitete sich das Odeur eines chemischen Zitronenduftstoffs.

»Sieht so aus, als ist unser Vogel gerade dabei, auszufliegen«, resümierte Anne, als sie ihre Waffe wegsteckte und über eine gepackte Sporttasche stieg.

Nachdenklich betrachtete Donner zwei leere Koffer. Sie machten den Anschein, als hätte der Eigentümer vorgehabt, etwas hineinzutun.

Ein Poltern ließ ihn herumfahren. Annes Waffenhand schnellte an die Hüfte.

»Entschuldigung«, lallte Franz Donner, der die Eingangstür geräuschvoll an die Wand gelehnt hatte. »Dreifache Verriegelung«, gab er von sich und tippte auf die Verschlüsse.

Donner knurrte böse. Anne atmete erleichtert aus.

»Mach das noch einmal und sie darf dich erschießen!« Nachdem Donner kurz nach links und rechts geschaut hatte, zeigte er auf den einzigen Schrank in der hintersten Ecke des Flurs. »Am besten stellst du dich dorthin und rührst dich keinen Millimeter vom Fleck.«

Den Mund voller gemurmelter Verunglimpfungen, schlurfte Franz Donner zu dem ihm zugewiesenen Platz.

»Ich habe ein ganz mieses Gefühl«, kommentierte Donner die Gesamtumstände der Wohnung und betrachtete die Verriegelungen. »Der Wohnungsbesitzer wird nicht mit derartigen Baumarktscharnieren gerechnet haben.«

»Scheinbar hat er sonst an alles gedacht«, bemerkte Anne, die mit zwei Fingern einen Staubtest an den Randleisten durchführte. »Selbst der Teppich wurde gereinigt. Wer zum Teufel bist du, Anton Below?« Sie murmelte den letzten Satz in den Raum hinein.

Du hättest ihn besser vorher richtig überprüft, Anne! Von Stark und Totner erwarte ich so viel Verstand nicht, aber von dir …

Er sprach es nicht aus und wischte die Vorwürfe schließlich gänzlich beiseite. »Der Typ wollte keine Spuren hinterlassen.«

Er und Anne sahen sich an. Beide nickten gleichzeitig. Er las ihre Gedanken. Genau wie er ahnte sie, dass Below niemals nur ein einfacher Chauffeur sein konnte. In ihrer Mimik spiegelte sich sein eigenes Unbehagen.

»Sieh nach, was in der Tasche ist«, wies er sie an. »Aber mach es vorsichtig! Eine Überraschung reicht für heute.«

Sie spannte die Wangenmuskeln an, als wollte sie fragen: »Warum machst du das nicht selber?« Stattdessen folgte ein Seufzer, während sie sich daran machte, mit Fingerspitzen am Reißverschluss der Tasche zu ziehen. »Was die Arbeitsverteilung angeht, sind wir auf dem besten Weg zum Musterpaar.«

»Ich bin auch mehr der Mann fürs Grobe.«

»Wen versuchst du zu verschaukeln?«, zischte sein Vater. »Du bist eher der Mann, bei dem ständig etwas in die Hose geht.«

»Wenigstens habe ich mich nicht besoffen und Mutter im Stich gelassen.«

»Sieh in den Spiegel, Erik! Du ertrinkst in Selbstmitleid.«

»Okay, das reicht!« Anna unterbrach die Nachschau. »Könntet ihr in meiner Anwesenheit den Kindergarten lassen? Los, Erik!«, kommandierte sie. »Verzieh dich an die frische Luft oder befrag ein paar Anwohner. Und du, Franz, halt besser den Mund, bevor du wie Rumpelstilzchen im Boden versinkst.«

Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, versagten Franz Donners Beine den Dienst. Wie ein nasser Sack kippte er um, zusammen mit dem Schrank, an den er sich festgehalten hatte. Das Krachen des Möbelstücks erfüllte die gesamte Wohnung mit ohrenbetäubendem Lärm.

Donner sprang hinzu. Um seinen Vater machte er sich weniger Sorgen. Vielmehr starrte er in die Nische, die hinter dem Schrank zum Vorschein gekommen war.

»Das darf nicht wahr sein!« Anne trat näher, bis sie Seite an Seite mit Donner stand.

Gemeinsam betrachteten sie ein Archiv des Schreckens.

»Die Fotos …«, flüsterte Donner benommen beim Anblick der unzähligen Porträts und Zeitungsausschnitte an Wand und Regalen. Es mussten Hunderte sein.

»Sie zeigen Brandner und Brecht«, sprach Anne aus, was auch er erkannte. »Und ihre Familien! Gott, der Kerl hat alles von langer Hand geplant.«

Franz Donner rappelte sich auf. »Ich kann es noch«, lobte er sich mit verwaschenem Kichern. »Es geht nichts über echten Ermittlerverstand. Na, ihr Klugscheißer? Wen nennt ihr jetzt Rumpelstilzchen?«

Donner schlug ihn gedanklich nieder. Staunend betrachtete er die vielen Geldscheine unterschiedlicher Währungen. Dazu Reisepässe mit verschiedenen Länderemblemen, Gebäudepläne, ein Adressbuch, Mobiltelefone, Kameras, Ferngläser, allerlei Kleinstelektronik, Klebeband, hautfarbene Handschuhe und diverse Messer. Drei Pistolen lagen samt dazugehöriger Munition offen auf einer Ablage. Es roch nach Waffenöl und Chemikalien.

Anne trat in die Nische hinein und streckte den Arm nach einem der unzähligen vergilbten Zeitungsartikel aus. Donner erkannte das Verhängnis. Mit einem Aufschrei riss er sie zurück in den Flur.

Nichts passierte.

»Was hast du?«, fragte sie ihn mit geweiteten Augen.

Wortlos zeigte er auf einen roten Punkt und einen winzigen Reflektorspiegel, beides knapp zehn Zentimeter über dem Boden angebracht.

»Eine Lichtschranke«, mutmaßte er.

»Wofür?«

Bevor er eine Vermutung anstellen konnte, erschallte ein Handyklingelton.

Alle drei drehten sich zu der Sporttasche um.

Weil der Rufton nicht aufhörte, beugte sich Donner über die Tasche und griff hinein. Langsam zog er das klingelnde Mobiltelefon heraus. Nach dem Moment des Abwägens tippte er auf die grüne Taste und lauschte.

»Sie haben fünf Sekunden«, sagte die Männerstimme am anderen Ende.

»Wer sind Sie?«

»Fünf …«

Mit dem Mobiltelefon am Ohr richtete er sich auf und drehte sich Anne und seinem Vater zu.

»Vier …«

Das Handy schepperte zu Boden.

»Raus hier!« Er packte beide bei den Schultern und stieß sie nach draußen.

Exakt drei Sekunden später detonierte der Sprengsatz und zerfetzte Papiere, Holz, Stein, Tapete, Stoff und Haut.

Blut und böser Mann
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