Kapitel 10
Kriminaloberkommissarin Annegret Kolka blickte sich um. In dieser Gegend kam es einem Lottogewinn gleich, falls sie einen Zeugen fand.
Das alte Kühlhaus grenzte zwar an ein stark frequentiertes Einkaufzentrum und obendrein an eine Bundesstraße, dennoch befand sich das Gebäude auf einem abgesperrten Abrissgelände. Pflanzenbewuchs und Schutthügel machten die Gegend zu einem schmucklosen Zeitzeugen einer vergangenen Industrieepoche. Selbst am Tag wirkten die Mauern finster und bei Nacht trafen sich an diesem Ort höchstens streunende Katzen.
Oder Mittellose, die auf Unterschlupf vor dem Wetter hofften.
Obdachlose wie Luis Reich zum Beispiel.
»Was hatte Ihr Gatte noch mal hier zu suchen?«, stellte sie die Frage an Alma Reich.
Bisher wirkte die Ehefrau erstarrt wie die Umgebung. Dazu die Kleidung löchrig wie die Mauern ringsum. Heruntergekommen und schweigsam. Sie redete nur, wenn man sie ansprach. Ansonsten wirkte sie versteinert, als fehlten ihr sämtliche Emotionen. Anscheinend überforderte sie die Situation. Einsatzleitung, Kriminalisten, Streifenbeamte. Das kleine Aufgebot an Polizisten schüchterte sie sichtlich ein.
Tja, meine Liebe, im Worst Case wird es hier bald vor Einsatzkräften wimmeln. Das würde bedeuten, wir haben einen echten Vermisstenfall.
Kolka versuchte, sie mit einem Lächeln aufzumuntern. Es misslang. Alma Reich schien geradewegs durch sie hindurchzustarren. Kolka rief sich das Geburtsdatum der Obdachlosen in Erinnerung. Demnach war sie einundvierzig. Kein Alter für eine Frau.
»Ach, Luis suchte ständig nach brauchbaren Dingen«, gab sie in monotoner Sprechweise Auskunft. »War sein Hobby, wissen Sie? Der hielt es keine zwei Stunden bei mir aus, da musste er wieder an die frische Luft, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Kolka verstand. Das war so ein Männerding aus der Steinzeit. Jäger und Sammler.
»Gab es Streit vor seinem Verschwinden?«
Alma Reich fasste sich erschrocken an den Hals. »Nein, wo denken Sie hin? Wir zanken uns fast nie. Dazu ist er ja auch viel zu selten in meiner Nähe.«
»Streit mit anderen? Revierkämpfe, oder wie das in Ihrem Umfeld heißt.«
Die Ehefrau senkte den Kopf und verneinte. Einige Zeit später sagte sie: »Ich will doch nur meinen Luis wiederhaben! Er würde nie einfach so abhauen …«
Um ihr ein Minimum an körperlicher Wärme zu spenden, berührte Kolka sie leicht am Unterarm. Dann ließ sie die Frau für den Moment allein und ging auf Martin Kroll zu.
Der Außendienstleiter der Polizeidirektion beratschlagte sich gerade mit seinem Führungsgehilfen Ben Lichtenberg. Beide deuteten mit ausgestreckten Armen über das Gelände. Sie sahen wenig optimistisch aus.
»Und?«, fragte sie Kroll. »Was hältst du von der Sache?«
»Das Gelände stellt für eine Suche kein Problem dar, allerdings nicht mit uns paar Hanseln.«
»Deshalb habe ich dich verständigt«, versuchte es Kolka mit entwaffnender Offenheit. »Es gibt keinen Besseren für das Finden von Vermissten.«
»Soll mich das trösten?« Mit der Schuhspitze drehte Kroll ein verrostetes Blechschild um. Die Schrift war über die Jahre unlesbar geworden. »Im Grunde genommen liegt noch nicht einmal ein Vermisstenfall vor.«
»Seit wann handelst du strikt nach Vorschriften?«
Er verengte die Augen zu denen eines schießwütigen Cowboys. »Als Außendienstleiter der PD habe ich eine gewisse Vorbildfunktion. Von mir erwartet man höchste Korrektheit.«
Nein, von dir bestimmt nicht!
Sie unterdrückte ein Kichern. Kroll war ein alter Knochen, aber auch ein ständig Getriebener. Einer, der für seinen Beruf blutete. Lichtenberg hatte ihr einmal einen Artikel gezeigt, indem die Presse Kroll als Bluthund betitelt hatte. Ein gefährlicher Name, aber einer, der wie kein zweiter passte.
»Mittlerweile kenne ich das fieberhafte Leuchten in deinen Augen«, lockte sie ihn. »Du spürst, dass etwas nicht stimmt.«
»Sein Bauchgefühl hat sich bereits auf der Herfahrt gemeldet«, sprach Lichtenberg stellvertretend für seinen Vorgesetzten und Partner, der stumm blieb.
»Was geht euch mein Bauch an?«, knurrte Kroll schließlich.
»Erik hat uns das eingebrockt«, sagte Kolka. »Diese Frau da hinten macht sich ernsthafte Sorgen um ihren Mann. Nach ihrem Hilferuf hatte Erik wahrscheinlich dasselbe ungute Gefühl.«
»Hör mir bloß auf mit Monster! Sobald ich den Namen Donner höre, ist das ein Grund mehr für mich, einen weiten Bogen um die Sache zu machen.«
»Den Eindruck hatte ich nicht, seit wir uns kennengelernt haben, im Gegenteil. Bisher schien dich Ärger wie ein Magnet anzuziehen.«
Kroll nahm einen langen Atemzug durch die Nase und taxierte sie wie ein Feldwebel einen aufmüpfigen Rekruten. »Hat er eigentlich gesagt, warum er sich nicht selbst um die beiden Reich kümmern konnte? Ich meine, immerhin hat sie ihn angerufen und mir braucht niemand erzählen, dass er in der Erstkontaktstelle in Arbeit erstickt.«
Kolka zuckte mit den Achseln und seufzte. Der Punkt ging an Kroll. Selbst nach über einem halben Jahr verstand sie Erik Donner nicht. Der Kerl war ein Mysterium und sie für ihn wie die Mutter Theresa. Sie hätte sich nie von ihm überreden lassen dürfen, hierher zu kommen. Ihre Abteilung hatte nach dem Verschwinden des Jagdwaffenherstellers Brandner und dessen Familie mehr als ausreichend zu tun, nachdem das Kommissariat 43 um Unterstützung in dem Fall gebeten hatte.
Was Krolls Frage anging, fand sie jedenfalls keine Erklärung.
»Hältst du die Frau für verrückt?«, forderte sie eine ehrliche Antwort.
Kroll zündete sich eine Zigarette an. Kolka hatte mitgezählt. Es war bereits die vierte innerhalb der letzten halben Stunde.
»Ja, das tue ich allerdings. Das heißt aber nicht, dass ich ihr keinen Glauben schenke.«
Kolka verkniff sich ein zufriedenes Lächeln, wartete stattdessen auf Krolls Vorschläge. Fünf Minuten später hatte er das Suchgebiet in Raster eingeteilt und Unterstützungskräfte über das Führungs- und Lagezentrum angefordert. Weitere dreißig Minuten danach trafen sieben Schutzpolizisten ein, die von Lichtenberg eingewiesen wurden. Bald darauf gab Kroll das Kommando für den Start der Suche.
Wiederum eine halbe Stunde später fand Kolka einen relativ frischen Schuheindruck in der feuchten Erde. Sie bückte sich an einem daneben befindlichen Betonschacht nieder, betrachtete zuerst die Spur und danach die an der Schachtöffnung angestellte Eisenplatte.
Eine Abdeckung. Ob die wohl kürzlich jemand zur Seite geschoben hat?
Während sie so dahockte und nachdachte, entdeckte sie zwischen zwei Grasbüscheln etwas gelblich Weißes, das im dunklen Schlamm wie ein Fremdkörper leuchtete.
Ein Zahn.