Kapitel 55

 

An der Einfahrt zum Klinikgelände an der Dresdner Straße kontrollierten vier Streifenbeamte in Schutzwesten sämtliche Fahrzeuge und Personen. Donner begriff sofort. Etwas stimmte nicht. Trotzdem ließ man sie passieren.

Noch bevor Anne den Audi richtig geparkt hatte, sprang er aus dem Wagen und rannte hinüber zum Außendienstleiter Kroll. Der schmetterte einer Handvoll Beamten Anweisungen zu. Dabei zeigte er mit ausgestrecktem Arm in mehrere Richtungen.

»Wo ist Felix Brandner?«, rief Donner bereits aus gut fünfzehn Metern Entfernung.

»Haltet mir die beiden Störenfriede vom Hals!«, kommandierte Kroll im Gegenzug.

Augenblicklich reagierte der MEK-Chef LeMark und einer seiner Schützlinge marschierte ebenfalls los. Mit breiter Brust versperrten die zwei Männer der Spezialeinheit Donner den Weg.

Und um Anne kümmerte sich Krolls Gehilfe Lichtenberg. Beschwichtigend redete er auf sie ein. Aber Anne trat einfach an dem Beamten vorbei. Selbst seine mächtige Statur hielt sie nicht auf.

»Wo sind Lilly und Felix Brandner?«

Lichtenberg machte Anstalten, nach ihr zu greifen, hielt sie aber schlussendlich nicht auf.

»Sie sind verschwunden«, gab Kroll ohne zusätzliche Geste Auskunft. Er blickte jedoch nur eiskalt – oder berechnend. Letzteres tat er für Leute wie Donner, die ihn kannten. »Wir suchen jetzt das Gelände ab und ihr beiden geht mir aus den Augen!« Sein Zeigefinger schwang zuerst zu Donner und dann weiter zu Anne. »Er ist beurlaubt und du bist nicht länger Teil der Sonderkommission.«

»Du hattest die Aufgabe, Lilly und Brandner zu bewachen«, erwiderte sie und ignorierte damit die Feststellung. »Wie um alles in der Welt können sie spurlos fort sein?«

Kroll legte die Stirn zu einem Faltengebilde. Seine halb aufgerauchte Zigarette schnippte er im hohen Bogen in das angrenzende Blumenbeet. »Jetzt hört mir mal zu, ihr zwei Komiker! Ich bin euch keinerlei Rechenschaft schuldig! Erregt kein Aufsehen und haltet den Kräfteeinsatz so niedrig wie möglich, so hat es der Chef der Soko entschieden. Ich habe die Scheiße schon oft genug hinbiegen müssen, deshalb teile ich die Überlegung des Leiters zu hundert Prozent. Jeder zusätzliche MEK-Beamte auf dem Gelände wäre aufgefallen.«

LeMark murmelte Zustimmung, Kroll redete weiter. »Ich habe Brandner wie besprochen zu seiner Tochter gebracht. Zwanzig Minuten später waren beide verschwunden. Keiner der Pfleger will etwas mitbekommen haben. Als hätte ein Scheißgeist unsere zwei Täubchen geholt. Wenigstens haben wir das hier gefunden.« Er riss einem Zivilbeamten eine Plastiktüte aus der Hand, die eine dunkelblaue Schirmmütze enthielt.

Bisher hatte Donner sich zurückgehalten, doch nun konnte er nicht anders. Mit aller Kraft drückte er die beiden MEK-Leute zur Seite und trat vor Kroll. »Die gehört Anton Below!«

»Scharf beobachtet! Die fanden wir auf Lillys Bett. Die Decke war halb heruntergerissen, der Tisch war verrückt und ein Stuhl lag umgekippt auf dem Boden. Eindeutig Spuren eines Kampfes!«

Fassungslos blieb Donner der Mund offen stehen. »Ihr habt sie doch bewacht. Kein Fremder kann so einfach in die Station spazieren.«

»Das ist kein Hochsicherheitstrakt«, antwortete LeMark in einem kläglichen Versuch, sich und seine Truppe zu verteidigen. »Selbstverständlich haben wir für Lillys Sicherheit und die ihres Vaters gesorgt. Es war auch alles in Ordnung, bis zu dem Zeitpunkt, als ein Krankenhauspatient das gesamte Gelände zusammengeschrien hat. Das geschah wegen einer Leiche am angrenzenden Zeisigwaldteich. Den Fund wird der Mann so schnell nicht verarbeiten. Wir vermuten, dass es sich bei der Toten um Brechts Ehefrau handelt. Weniger als zweihundert Meter von hier entfernt liegt sie. Hat eine üble Wunde am Hals. Meine Leute sichern den Fundort so lange, bis die K eintrifft.«

»Das Ganze war vor exakt fünfunddreißig Minuten.« Kroll las die Zeit von seiner Uhr ab. »Daraufhin haben wir den Bereich gesichert und nun beginnen wir mit der Suche nach unseren beiden Vermissten. Und falls ihr noch eine Leiche braucht: Unweit der Klinik hat man Nina Richter gefunden.«

Donner schluckte, bekam aber den Gefühlsausbruch unter Kontrolle. Vor den Männern wollte er keine Schwäche zeigen – und vor der Frau erst recht nicht.

»Die ganze Sache stinkt«, sagte Kroll. »Wir bekommen wie immer zu wenig Informationen von der Kripo und derweil hält uns jemand zum Narren.«

»Ein klassisches Ablenkungsmanöver.«

»Wie dem auch sei, das geht euch zwei nichts mehr an. Es ist mittlerweile fast 18 Uhr und mir fehlen die Leute und die Nerven, um weiter Zeit mit diesem Gerede zu verschwenden. Verzieh dich endlich in deine Höhle, Tarzan, und nimmt Jane mit – oder von mir aus einen Affen.«

»Du kleiner …!«, brauste Donner auf, doch Anne warf sich ihm entgegen, um ihn zurückzuhalten.

»Lass ihn, ich telefoniere mit Stark.«

»Viel Spaß! Aber ich fürchte, er wird dir nicht zuhören«, sagte Kroll und zündete sich eine neue Zigarette an. »Die Typen vom LKA haben dich angeschwärzt. Das geht bis ins Ministerium. Tut mir echt leid für deine Karriere.«

Er sagte es ohne Häme. Zumindest glaubte Donner das.

Beide entfernten sich ein Stück von der Gruppe, die um den Außendienstleiter stand.

Inzwischen hatte Anne bereits das Handy am Ohr. Eine unterkühlt wirkende Unterhaltung begann.

»Henry, lass es mich dir doch wenigstens erklären! Ich glaube, Brandner hat uns nicht alles gesagt, was er weiß …«

Sogar auf zwei Meter Entfernung konnte Donner Starks Wutausbruch hören. Undeutlich zwar, aber es war unverkennbar, dass er kein Interesse an der Fortführung des Gesprächs hatte. Annes Fluchen und Betteln half nichts. Das Telefonat verlief derart frostig, dass das Handy jeden Moment Eissterne ansetzen würde. Ihm war von vornherein klar gewesen, dass der Kommissariatsleiter kein Ohr für seine Mitarbeiterin hatte.

»Bitte, Henry! Ich brauche eine Handvoll Leute, um etwas zu überprüfen. Mir ist ein Gedanke gekommen …«

Donner horchte auf. Leider kam Anne nicht dazu, den Satz zu vervollständigen. Stark hatte das Telefonat zuvor beendet.

»Verbockt wie ein Kleinkind!«, schimpfte Anne und hämmerte auf eine der Handytasten. »Alle verfügbaren Kollegen der Soko stecken bis zum Hals in Arbeit. Stark hat ein Suchgebiet abstecken lassen, für das man mit dem momentanen Kräfteaufgebot drei Tage bräuchte. Er erwähnte Nina Richter … Mist, es tut mir leid, du hast keine Schuld an ihrem Tod.«

Donner nahm es schweigend zur Kenntnis. Er hatte ohnehin nicht mehr damit gerechnet, sie lebend wiederzusehen. Die Trauer würde ihn vielleicht später mit einem Hagel an Selbstvorwürfen treffen.

»Was für ein Gedanke ist dir gekommen?«

»Ach, ich weiß nicht«, wehrte sie ab. »Erinnerst du dich an den Zeitungsausschnitt, den ich aus Belows Wohnung retten konnte?«

»Flüchtig.«

»Ich habe eine vage Vermutung, wo sich Lilly und ihr Vater befinden könnten.«

Blut und böser Mann
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