Kapitel 27
Donners Fluchen wurde vom Dröhnen der LKW-Hupen geschluckt. Um ein Haar hätte der Laster ihn erwischt. Gedankenverloren war er einfach auf die Straße getreten und hatte eine Entschuldigung halblaut aufgesagt. Eine Entschuldigung für Kolka.
Donner sah dem Brummi nach, wie dieser an der nächsten Kreuzung verschwand. Er hob den Blumenstrauß auf. Zumindest das, was von der einstigen Blütenpracht übrig geblieben war. Er betrachtete die gebrochenen Strünke und die zerfetzten Blüten. Nicht eine Blume hatte die Walze überlebt. Der Laster hatte den Strauß regelrecht geköpft.
Da holt man einmal im Leben Blumen für eine Frau und dann das! Vielleicht besitzt Anne ein Meerschweinchen, dem man das Kraut geben könnte …
Mit einer ausholenden Armbewegung pfefferte er das Grünzeug auf die Straße und trat zusätzlich darauf. Brabbelnd wie sein alter Herr stapfte er auf Kolkas Haus zu. Die Worte, die er sich für sie zurechtgelegt hatte, waren vergessen. Er würde improvisieren müssen. Das konnte er sowieso besser.
Gerade als er klingeln wollte, ging die Haustür auf und ein Mann mit dem Gesicht und dem Körperbau eines Katalogmodells trat ihm entgegen. Dahinter tauchte Kolka auf. Ihre Hand ruhte an seiner Taille. Während das Model mit dem dichten schwarzen Haar und den ebenso nachtfarbenen Augen bei Donners Anblick zusammenzuckte, sagte Kolka verblüfft: »Erik!«
»Und Sie sind?«, fragte Donner das Model und musterte den dazugehörigen Körper von den Turnschuhen bis zu den athletischen Schultern.
»Ich?«, fragte das Model und zeigte mit dem Finger auf sich selbst.
Kolka stemmte die Arme in die Hüfte und stellte sich zwischen Donner und dem anderen Kerl. »Antworte nicht darauf!«, bevormundete sie ihren Besuch.
»Das ist schon okay! Ich heiße Mark!« Er streckte Donner die Hand hin.
Donner tat nichts dergleichen, sondern schob seine Hände demonstrativ in die Manteltaschen.
So ist das also! Du hast aber superschnell Trost gefunden, meine Liebe.
»Mark also.« Donner spie den Namen regelrecht aus. »Gehen Sie hier öfter ein und aus?«
»Das geht dich ja wohl einen Scheißdreck an!«, brüskierte sich Kolka. Ihre Hand wanderte unterdessen an Marks Brust hinauf bis zum Hals, wo sie ihm provokativ den Nacken kraulte. Sie musste sich dazu leicht strecken, denn Mark war sogar noch ein Stück größer als Donner.
Mark grinste, obwohl er nicht so recht zu wissen schien, was er von der Situation halten sollte. Es war eines von jenen unschlüssigen Lächeln, die man aufsetzte, sobald man sagen wollte …
»Ich muss dann man los!«
»Nein!«, protestierte Kolka. »Du kannst jetzt nicht gehen.« Sie machte Anstalten, Mark zurück in ihr Haus zu drängen, doch dieser entschlüpfte ihr wie ein Fisch.
Er hob die Hände und lief rückwärts zum Zauntor. »Sorry, Leute, aber mit Mister Haudrauf lege ich mich ungern an. Mit dem musst du schon selbst fertigwerden.«
Zufrieden nahm Donner diese Art von Ehrlichkeit zur Kenntnis.
Eine gesunde Einstellung.
»Mark, wenn du jetzt gehst, sind wir geschiedene Leute!«
»Erinnere dich bitte daran, bevor du das nächste Mal die unkaputtbare High-End-Grafikkarte deines PCs schrottest.«
Damit ließ er sie stehen und verschwand. Zu Donners Erstaunen im Nachbareingang des Doppelhauses.
»Aha! Das ist also dein Gönner, der dich hier zu den vergünstigten Konditionen wohnen lässt. Was hat der Typ bei dir zu suchen?«
»Er ist in meiner Gilde.«
»Was?«
Dieser neumodische Computerslang ist was für Chinesen und Koreaner.
Kolka seufzte genervt. »Was willst du, Erik? Hat sich deine kleine Praktikantin einen Jüngeren geangelt?«
Er stellte sich frontal vor sie hin und deutete hinter sich zur Straße. »Ich hatte einen Blumenstrauß für dich gekauft.«
»Einen Blumenstrauß? Du?« Suchend schaute Kolka an ihm vorbei. »Was ist damit passiert?«
»Ist unter die Räder gekommen.«
»Warum wundert mich das nicht?«
»Egal, die Blumen gab es an der Tankstelle.«
Sofort versperrte sie ihm mit Armen und Beinen die Eingangstür. Zu spät sah er ein, dass er sich den Spruch hätte schenken sollen.
»Erik, ich habe keine Lust mehr auf deine Kapriolen, die ständig im Chaos enden. Ich bin es leid, jedes Mal aufs Neue von dir enttäuscht zu werden. Ich bin vierunddreißig, mein Leben ist zwar keine Party, aber wenigstens habe ich es im Griff. Du dagegen bist wie ein Pulverfass, das bei der kleinsten Erschütterung hochgeht. Dabei reißt du die Menschen in deiner Umgebung mit ins Verderben. Sag mir, was du hier zu suchen hast, und dann verschwinde. Und bevor du auf die Idee kommst, mich um irgendeinen Gefallen zu bitten: Meine Antwort lautet nein!«
Donner atmete einmal tief durch. Er wünschte, er hätte sich vorher mehr angestrengt und eine auswendig gelernte Rede parat. »Zwischen mir und Nina war nichts.«
»Oh, du kannst dich sogar noch an ihren Namen erinnern! Glaubst du ernsthaft, mich interessiert, mit wem du was treibst? Ach, ich bitte dich, Erik, ich hatte dich weniger naiv eingeschätzt.«
»Wusstest du, dass dein linkes Ohr flattert, wenn du bluffst?«
Sofort fasste sich Kolka an ihr Ohrläppchen. Als sie ihren Fehler bemerkte, bröckelte ihre felsenfeste Haltung. Eine heitere Falte erschien kurzzeitig um ihre Mundwinkel.
Er stieß einen Pfiff aus. »Du fällst doch tatsächlich auf den alten Trick herein. Ach, Anne, ich hatte dich für weniger naiv gehalten.«
Sichtlich resigniert trat sie zurück in den Flur und wollte die Tür zuschlagen, aber Donner sprang nach vorn und stemmte sich dagegen.
»So geht es nicht weiter mit uns.«
»Oh, ja, damit triffst du ins Schwarze. Gib die Tür frei, sonst zerquetsche ich deine Finger! Ich warne dich nur einmal.«
»Mach ruhig, aber ich rücke dennoch keinen Millimeter vom Fleck.« Er bekam ihren Arm zu fassen. Dann drängte er sie gegen eine Wand. Mit der freien Hand wollte sie ihm eine Ohrfeige geben, doch auch diesen Versuch wehrte er ab. Hinter ihm glitt die Tür ins Schloss. »Bisher bin ich jedes Mal davongelaufen, wenn ich dir etwas wirklich Bedeutsames sagen wollte.«
Sie sah ihn aus großen Augen an und er las Erstaunen darin. Es war keine Furchtsamkeit, mehr ein wildes Aufflammen von Skepsis.
»Und vielleicht mache ich mich in der nächsten Minute komplett lächerlich und werde mich für das, was ich gleich sage, ewig hassen, aber ich werde erst gehen, wenn du mir zugehört hast.«
Ihre Lippen formten ein stummes Fuck. Sie atmete schwer. Er spürte, dass ihre Gegenwehr zu sinken begann, und er spürte noch etwas. Eine Spannung lag in der Luft, ein Knistern, das die ganze Zeit zwischen ihnen gewesen war und sich nun innerhalb von Sekunden um eine unfassbar große Zahl vervielfältigt hatte.
»Ich weiß nicht, was du empfindest für ein Monster wie mich, was es in dir auslöst, wenn du in meiner Nähe bist, aber sobald ich dich sehe, sobald ich dich rieche, ja, allein wenn ich an dich denke, fühle ich mich hilflos verliebt wie ein Teenager. Nachts liege ich stundenlang wach und male mir dein Gesicht aus. Ich habe Kopfschmerzen, weil du in meinem Schädel hantierst wie ein teuflischer Mechaniker, der an irgendwelchen Hebeln zieht und mein Gehirn manipuliert. Doch weil ich verrückt nach dir bin, ertrage ich die Kopfschmerzen.« Er schob sein Gesicht dicht an ihres. Sein Schatten bedeckte sie und ihre Augen funkelten, als könnte keine Dunkelheit sie auslöschen. Donner konnte sich von ihrem Anblick nicht losreißen. Ihre Lippen bebten, ihre Wangenmuskeln wirkten hart. Er redete und er wusste nicht, was er da eigentlich sagte. Er fühlte sich wie in einem Traum. In einem Traum, in dem seine Hässlichkeit keine Rolle spielte. »Ich mag dich so sehr, dass es wehtut. Ich will bei dir sein, dich nicht nur sporadisch sehen. Halte mich für einen Idioten, aber ich begehre dich. Es wird das erste und letzte Mal sein, dass ich vor jemandem meine Gefühle derart offenlege. Und wenn du jetzt sagst, ich solle gehen, dann tue ich das. Doch das musste einmal raus und später werde ich nicht mehr den Mut dafür haben.«
Lange, nachdem er ausgeredet hatte, flüsterte sie: »Drei Worte hätten gereicht. Bloß drei Worte. Es wären die ehrlichsten von allen gewesen, denn du würdest sie nicht sagen, wenn es dir nicht ernst wäre. Drei Worte …« Die letzten Silben hauchte sie.
Donner verstand und er nahm allen Mut und sein ganzes Verlangen zusammen und näherte sich ihren Lippen mit den seinen, sodass sie einander beinahe berührten. Er bemerkte, wie sie erwartungsvoll Luft holte, und er fühlte auch, wie die Spannung zwischen ihnen ins Unerträgliche stieg.
»Ich liebe dich.«
Es klang tonlos, als hätte er es nur in Gedanken gesagt.
Bevor er es wiederholen konnte, schlang sie die Arme um ihn und ihre Lippen lagen auf seinen. Ihr Kuss war stürmisch und dennoch sanft. Er hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, sie zu küssen, doch keine Fantasie war mit der Wirklichkeit vergleichbar. Er war überwältigt, aber nur für einen kurzen Moment, dann erwiderte er die innige Berührung. Sie küssten sich wie im Kampf. Mal war es seine Zunge, die sie zärtlich in Besitz nahm, und dann waren es wieder ihre Arme, die ihn heftig umschlangen und an sie pressten. Er spürte die vielen Explosionen unter seiner Haut.
Ja, er war Sprengstoff!
Und sie der Zünder.
Für einen flüchtigen Moment überlegte er, ob ihr Sohn zu Hause wäre und sich bisher still in seinem Zimmer versteckt hielt, aber den Gedanken wischte er beiseite. Diesen innigen Augenblick, das Ende eines endlos langen Sehnens, wollte er nicht hergeben. Er schob sie durch die Wohnung, und sie zog ihn mit sich. Irgendetwas fiel scheppernd auf den Boden und zerbrach. Eine Vase oder eine Skulptur.
Er würde sie ihr später ersetzen.
»Kannst du Musik machen? Guns N’ Roses oder Nirvana?«
Sie schüttelte den Kopf und für einen kurzen Moment strich sie mit der Zunge über ihre Lippen. Er konnte nicht anders, als sie anzustarren wie ein Durstender das rettende Wasser.
»Red Hot Chili Peppers? Oder wenigstens Linkin Park?«
»Nein, aber du hast die Wahl zwischen dem Soundtrack von Dirty Dancing und den größten Techno-Hits der Neunziger.«
»Okay, ich geh und hol schnell was Stimmungsvolles aus dem Handschuhfach meines Wagens.«
»Du bist ein Idiot, Erik, aber ich liebe dich ebenfalls. Solltest du dich heute allerdings heimlich davonstehlen, werde ich dir nachlaufen und dich erschießen.« Mit dieser Drohung riss sie ihm den Mantel von den Schultern und stieß ihn die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Er ließ es nur allzu bereitwillig geschehen und lachte, weil sie so viel Feuer hatte. Und ausgerechnet er löste das aus!
Was für ein Teufelsweib!
Jetzt war es egal, dass die Blumen von der Tanke überfahren worden waren und er sich bei seinem Liebesgeständnis wie ein unbeholfener Bengel gefühlt hatte. Das alles war es wert gewesen.
Später, als sie ermattet und erlöst, halb von Bettlaken umwickelt, nebeneinanderlagen, strich er ihr mit zwei Fingern am Bauch entlang und räusperte sich: »Es ist vielleicht nicht der beste Moment, das zu fragen, aber was läuft da eigentlich zwischen dir und Mark?«