Kapitel 1

 

Heute (Sechs Jahre danach)

 

Widerstandslos schnitten die Klingen durch das Zeitungspapier. Kriminalhauptkommissar Erik Donner saß in seiner Wohnung und nahm das Papierstück behutsam zur Hand. Wieder ein Artikel für seine Sammlung. Die Schlagzeile, mit der man das Deckblatt der Tageszeitung formatfüllend bedruckt hatte.

 

Fabrikantenfamilie spurlos verschwunden!

 

Aufmerksam betrachtete er den Text, legte die Schere beiseite und nahm einen Zug von der Zigarette. Seit einem halben Jahr rauchte er zu Hause an dieser Packung Lucky Strikes. Immer dann, wenn er über einem Fall brütete. Einen Fall wie diesen. Es ging um den verschwundenen Jagdwaffenhersteller Felix Brandner von CORWEX. Ein Vermisstenfall, der nicht in Donners Zuständigkeitsbereich fiel.

Die einzigen Fälle, die ich bearbeiten darf, sind die hoffnungslosen.

Dabei war er längst kein Ermittler mehr. Jeden Morgen musste er sich diese Tatsache eingestehen, wenn er sich in seinen klapprigen Mitsubishi setzte und die Tür zum Büro mit der panzergrünen Tapete aufsperrte. Vom gefeierten Helden der Mordkommission hatte man ihn zum Servicemitarbeiter degradiert.

Kriminalpolizeiliche Erstkontaktstelle, so stand es auf dem Schild neben seiner Bürotür. Anlaufstelle für Bürger, die sonst nichts auf die Reihe bekamen, weil sie entweder zu alt, zu allein, zu mittellos oder schlicht und einfach zu dumm waren.

Keine Frage, man hatte ihn auf der Weltkarte der Polizeidirektion an den Arschpol verbannt. Lediglich die Kripomarke, die er beim Nachhausekommen in einem ständig wiederkehrenden Ritual anhauchte, mit dem Ärmel polierte und in das Schubfach neben das Bild der verstorbenen Ehefrau und seines Kindes legte, war ihm geblieben. Man hatte ihm die Familie genommen. Weg. Alles weg. Dafür gab es jetzt jede Menge Einsamkeit in seinem Leben.

Bei genauerer Betrachtung fiel ihm auf, dass der Unternehmer auf dem Zeitungsfoto lächelte. Motive mit strahlenden Gesichtern druckte die Presse gern auf die Titelseite. Das ließ Unglücksfälle mit tödlichem Ausgang besonders tragisch erscheinen, weil die Leute sofort glaubten, ein fröhlicher Mensch wäre mitten aus dem Leben gerissen worden. Das Schicksal erschien dann jedes Mal besonders grausam.

Bisher gab es keine Hinweise auf den Tod von Felix Brandner und seiner Familie. Sie galten weiterhin als verschwunden. Aber Donner beschlich das ungute Gefühl, dass sich dieser Zustand bald verändern könnte.

Erst kürzlich hatte Brandner in einem Fernsehinterview betont, wie gut die Geschäfte seiner Firma liefen. Stolz hatte er ein neues Waffenmodell präsentiert, mit dem ein Schütze einen Dinosaurier erlegen könnte, falls man zufällig auf einen traf. In Anbetracht der Tatsache, dass sein Unternehmen von Tierschützern kritisch betrachtet wurde, hatte er es wohl vermieden, von Elefanten zu sprechen. Brandner hatte im Interview gescherzt und keineswegs wie jemand gewirkt, der vorhatte, demnächst einfach so zu verschwinden.

Donner lochte das Zeitungspapier und heftete den Artikel in den Ordner für das laufende Jahr. Andere sammelten Münzen oder Briefmarken, er archivierte besonders spektakuläre Fälle im Bereich der Polizeidirektion.

Eine Fliege schwirrte um ihn herum und setzte sich auf den Rand seines Wasserglases. Mit einer Handbewegung scheuchte er sie davon.

Kaum war der Frühling angebrochen, krochen die Plagegeister aus ihren Ecken. Das war in der Erstkontaktstelle nicht anders. Seit Tagen fielen unzufriedene Bürger wie Insekten in die Bude ein und brachten dämliche Fragen oder noch dämlichere Beschwerden vor. Donner hasste den Frühling. Nicht nur wegen der überdrehten Stimmung der Leute nach den grauen Wintertagen, sondern weil er im Frühling Geburtstag hatte. In fünf Tagen würde er die Schwelle zur vierzig überschreiten.

Wie ich diese Zahl hasse! Kein Mensch wird vierzig und jubelt darüber.

Die Fliege drehte eine Runde um die Deckenlampe und steuerte erneut auf das Glas zu. Donner setzte es am Mund an und trank es in einem Zug leer.

Tja, Frau Fliege, du bezahlst keine Untermiete, also gehört das alles mir.

Er kam nicht dazu, das mentale Gespräch mit dem Insekt zu vertiefen, weil es klingelte.

Er erwartete keinen Besuch.

Einhändig schob er den Hefter beiseite und steckte aus einem Reflex heraus die Schere in seine Hosentasche, wo sie griffbereit herausschaute. Als Bulle mit einer ellenlangen Liste an festgenommenen Schwerverbrechern konnte man nicht vorsichtig genug sein.

Vom Wohnzimmer durchschritt er den Flur und öffnete die Eingangstür.

Zornitz!

Polizeimeister Stefan Zornitz.

Was will der bloß von mir? Für zwei Draufgänger ist kein Platz in diesem Haus.

Egal was der Grund für das späte Erscheinen des Kollegen war, es bedeutete Ärger.

Kaum dass die Tür offen stand, klopfte Zornitz sich die Nässe von den Schuhen und trat ohne Aufforderung ein. »Danke, dass du mich reinbittest!«

»Habe ich nicht, du bist einfach eingetreten.«

»Keine Sorge, ich will nicht bei dir einziehen.«

Er zog seine Jacke aus, was nicht darauf hindeutete, dass er Wort halten würde. Als er das Kleidungsstück an einen Haken im Flur hängen wollte, griff Donner danach und drückte es ihm gegen die Brust, damit er es ja in der Hand behielt.

Zornitz war achtundvierzig und noch immer Polizeimeister. Dank seines Rufs als einer, der sich und seine Streifenpartner ständig in Schwierigkeiten brachte, war er nicht gerade das, was man einen gern gesehenen Gast nannte. Allerdings war Zornitz auch ein Bulle mit Herzblut. Manchmal. Leider scherte er sich wenig um Dienstvorschriften, wenn es hoheitlichen Aufgaben diente. Das machte ihn beinahe zu so etwas wie einen Seelenverwandten von Donner.

Vor Jahren hatte Donner in seinem ersten Praktikum viel von Zornitz gelernt. Hauptsächlich Dinge, die man sonst nur in Filmen sah.

Zornitz betrat das Wohnzimmer, ohne danach zu fragen. »Hast du von der Sache mit Felix Brandner gehört?«

Donner gab keine Antwort. Jeden Moment würde Zornitz den Zeitungsausschnitt bemerken. Sekunden später beugte der sich auch wie erwartet über die Couch und drehte den geöffneten Hefter mit den Artikeln zu sich. Er nickte zufrieden – und ein wenig nervös.

»Um diese Angelegenheit kümmern sich die Kollegen von der Fahndung«, sagte Donner.

»Das ist keine Sache für die Fahndung«, erwiderte Zornitz barsch. Er rieb sich das unrasierte Kinn wie ein Getriebener.

»Wie kommst du darauf?«

»Das erklär ich dir gleich.« Ohne zu fragen, nahm er sich eine Zigarette und Donners Sturmfeuerzeug, welches sein Vater ihm einst geschenkt hatte. Auf dem Gehäuse war das russische Wort für Donner eingraviert.

Als wäre es seine erste Kippe nach einer Unendlichkeit, inhalierte Zornitz das Nikotin. »Zuerst brauche ich dein Wort, dass du mir helfen wirst.«

»Bei was helfen?«

»Brandner zu finden.«

Donner stieß einen gequälten Lacher aus. So wie Zornitz es formulierte, klang es wie ein albernes Kinderspiel. Als hätte sich Brandner samt Familie nur versteckt.

»In was für einen Irrsinn willst du mich da reinziehen?«

»Ja, du sagst es: ein verdammter Irrsinn!« Er griff sich an die Hosentasche, holte ein zerknittertes Tuch hervor und warf es auf den Tisch.

Donner trat näher und faltete den kakifarbenen Stoff auseinander. Es war ein Dreieckstuch, das man sich um den Hals binden konnte. Darauf war ein Satz aufgestickt.

 

Der Jäger kniet nicht vor der Beute, er kniet über ihr.

 

Damit konnte Donner nichts anfangen.

»Erik, ich brauche dein Wort! Brandners Partner hat mich angerufen. Das Tuch befand sich in Brandners Büro. Jemand hat es dort als Drohung hinterlegt. Allein schaffe ich es nicht. Und außer dir kenne ich keinen, der genügend Schneid besitzt, dieses Problem anzugehen. Es geht nicht nur um Brandner, sondern auch um seine Frau und seine Tochter. Denk an dein Schicksal! Niemand versteht besser, was auf dem Spiel steht.«

Mit gallebitterem Geschmack im Mund dachte Donner an den Verlust seiner eigenen Familie. Alles hätte er dafür gegeben, die Zeit zurückdrehen zu können. Stattdessen konzentrierte er sich auf das aktuelle Geschehen. »Lass es, Stefan. Im Moment frage ich mich, in was du da hineingeraten bist, doch es gefällt mir nicht. Du tanzt da offensichtlich sehr dicht am Abgrund. Wenn du was über Brandners Verschwinden weißt, ist es deine Pflicht, es dem K43 zu melden.«

»Du kapierst das nicht, oder? CORWEX will das ohne die Polizei regeln.«

»Ein Grund mehr, die Finger davon zu lassen.«

»Hast du deine Eier verloren?«

»Wenigstens habe ich meinen Verstand noch beisammen. Und um meine Eier brauchst du dir keine Sorgen machen. Denen geht es bestens!«

»Scheiße, schau dich doch mal an!« Zornitz deutete auf Donners entstelltes Gesicht. »Dir haben sie doch auch in den Arsch getreten. Oder willst du mir einreden, dass dich dein Job ausfüllt? Wach auf, unser Dienstherr verarscht uns! Hilf mir nur bei dieser einen Aufgabe. Gemeinsam finden wir Brandner und ich verspreche dir, die Sache ist im Nu erledigt. Es springt sogar was für dich raus.« Mit den Fingern deutete er ein Geldzählen an.

Donner brauchte nicht lange zu überlegen. Er warf Zornitz das Tuch zusammengeknittert zurück. Beim Fangen verteilte sich Zigarettenasche auf Couch und Tisch.

»Also bist du dabei, Erik?«

Blut und böser Mann
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