Kapitel 44
Damals (Sechs Jahre zuvor)
Unter dem erfrorenen Himmel hallten russische Lieder. Es waren Melodien, deren Töne einen Hauch von Feierlichkeit enthielten. In Oblast Wologda stimmten meist die Männer mit den rausten Kehlen den Gesang an. Jegor Tarassow erinnerte sich an die klirrenden Winternächte seiner Kindheit, als der Frost die Hütte zum Knarren gebracht hatte. Der Vater hatte Holzbesteck geschnitzt und volltönend vom ewigen Frieden in der Taiga gesungen. Darunter mischte er die Laute der Tiere der Region, die er auf perfekte Art imitierte.
Sogar ein Wolfsheulen konnte er wie kein Zweiter nachahmen.
Als die Halluzination verging, hockte Tarassow von der Welt alleingelassen im Schnee. Für einen Moment hatte er geglaubt, der Weiße Wolf hätte sich angeschlichen und mit einem Knurren nach ihm die Fangzähne ausgefahren. Doch der zornige Wind, der durch das Gelände fegte, hatte ihm einen Streich gespielt.
Niemand sang Lieder. Das Rauschen der Bäume in der Ferne und das Tosen des Flusses in der Nähe sorgten stattdessen für ein beklemmendes Trommeln. Zumindest hörte es sich wie Schläge an. Aber es war der Schrecken, der die Einbildungen hervorrief. In Tarassows Verstand, der noch auf Empfindungen reagierte, befanden sich die panischen Schreie seiner Familie. Diese würden darin bis zu seinem eigenen Tod nachhallen.
»Tot«, brabbelte er wie ein Tattergreis. »Sie sind tot.«
Der Zustand kam ihm auf einmal so erquicklich, so gnadenvoll vor. Am Ende stimmte es, was die alten Weiber immer behaupteten: dass Tod und Leben sich wie Geschwister ergänzten. Unterschiedlich und doch zusammengehörend.
Unbewusst schüttelte er die Ermattung aus den Knochen und lief weiter Richtung Wasser. Wohin genau, wusste er nicht. Es gab keinen Ort, zu dem es ihn noch zog. Keinen Ort, wo er hätte Frieden finden können. Allenfalls verspürte er Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben, Gleichgültigkeit gegenüber den Vögeln, die hoch oben auf der Suche nach Nahrung kreisten, Gleichgültigkeit gegenüber dem Wetter.
Seine Tränen hatten sich in Eis verwandelt und waren einfach von ihm abgefallen. Sein Herz schlug nicht mehr. Die Kälte hatte seinen Körper auf abstoßende Weise verzaubert. An den Extremitäten bemerkte er die Missstände besonders deutlich. Er hob die Hände vor das Gesicht und betrachtete die Blaufärbung an den Fingerspitzen. Wie von Tinte. Aber Tinte war teuer. Zu teuer und zu nutzlos für einen Fallensteller.
Tarassow rutschte einen kleinen Abhang hinunter. Das Rauschen des Flusses kreischte wie eine Meute Habichte. Der Wellenklang dämpfte die Stimmen der Familie in seinem Kopf. Anklagende Schreie von Toten.
Sein ältester Sohn war als Erster gerannt. Bald darauf hatte Tarassow eine schnelle Schussfolge aus der Fluchtrichtung gehört. Keine Zweifel, die Bluthunde hatten die Spur des Sohnes aufgenommen und die Jäger zu ihm geführt. In Kürze würde sie auch ihn mit dem Zielfernrohr erfassen. Er war der Hirsch. So hatten die Deutschen ihn betitelt.
Schneeteufel brachten verwässerte Echos von Hundegebell mit. Als er sich suchend umsah, verlor Tarassow den Halt und fiel in ein Gebüsch. Etwas schoss daraus hervor. Mit einem Angriff rechnend, warf er sich zur Seite. Dann sah er ein Haselhuhn davonrennen. Flatternde Flügel peitschten Schneewolken auf.
Für einen Augenblick blieb er in der Kälte liegen.
Wann hatten er und seine Familie das letzte Mal Haselhuhn über dem Feuer gebraten? In den eisigen Wintermonaten verließen die Vögel ihre Schneekammern höchstens für zwei Stunden zur Nahrungssuche. Man brauchte Glück, um eines zu entdecken.
Während er versuchte, sich an den Geschmack des Hühnchenfleisches zu erinnern und gedanklich die feinen Knochen in eine Schale schnippte, bemerkte er, dass er weitergelaufen war. Er duckte sich unter eine Reihe Bäume hindurch und trat an einem von Schnee bedeckten Felsen vorbei. Gleich konnte er das Wasser sehen und dessen Duft einatmen. Den Geruch der Gischt, die ihren feuchten Nebelfilm vom Tal bis an die Kante des Berges warf.
Zu spät.
Man hatte ihn entdeckt.
Tarassow verharrte in der Bewegung.
Da stand einer der Jäger. Höchstens fünfzehn große Schritte von ihm entfernt. Der Deutsche war deutlich in dem ausdruckslosen Gesicht zu erkennen. Tarassow hatte nie einen Nationalsozialisten gesehen, aber in der grauen Uniformjacke, den grauen Hosen und den schwarzen Stiefeln sah er so aus, wie sein Vater die Nazis immer beschrieben hatte. Dazu kam die stocksteife Haltung.
Tarassow musterte seinen Gegner. Der andere blickte zurück. Unschlüssig, abwartend. In dieser Situation hätte ein Außenstehender vermutlich niemals sagen können, wer mehr Angst hatte: der Jäger oder die Beute. Vielleicht hielt der Deutsche ihn für einen Geist und nahm deshalb das Gewehr nicht in Vorhalte. Er stand einfach reglos wie ein Erfrorener. Lediglich der Atem stieg ihm sichtbar gehetzt aus dem Mund.
Angreifen oder fliehen? In Erwartung des erlösenden Knalls rannte er Richtung Fluss. Die Rohre der Doppelläufigen blieben stumm. Tarassow lief. Woher die Kraft kam, wusste er nicht, denn seine Muskeln waren längst ausgelaugt. Der Rand in die Tiefe kam in Reichweite.
Ein derber Schlag ins Kreuz ließ ihn taumeln. Der Jäger war über ihm und er tobte auf Deutsch. Tarassows gefrorene Finger konnten keine Fäuste mehr bilden. Er wehrte sich gegen den Angriff, so gut es ging. Wie durch ein Wunder schaffte er es, den Jäger abzuschütteln. Schließlich kam er wieder auf die Beine, wankte noch ein paar Meter, dann war der Deutsche erneut bei ihm. Wieder versuchte der andere, Tarassow zum Aufgeben zu zwingen. Der Gewehrkolben traf ihn auf der Brust, raubte ihm die Luft. Mit aller Macht schloss Tarassow die Finger und verkrallte sich in der Kleidung des Angreifers. Ein Ratschen und Tarassow hatte das Stoffabzeichen mit dem weißen Wolfskopf in der Hand.
Er taumelte zurück. Hunde kesselten ihn ein. Er vernahm ihr Blaffen, stierte auf die Reißzähne, sah die Speichelfäden, die sich dickflüssig von Ober- zum Unterkiefer dehnten. Der zweite Deutsche, der Gefährlichere, trat hinter dem anderen hervor und klopfte seinem Nazikumpel auf die Schulter. Dieser Jäger hatte Tarassows neunjährigen Sohn erschossen, er würde den Hirsch nicht laufen lassen.
Allerdings forderte er den anderen Jäger auf, es zu Ende zu bringen. Obwohl Tarassow den Wortlaut nicht verstand, wusste er, was sie beredeten. Der Blick des Mörders sprach in einer Sprache, die jeder verstand.
Aber der Deutsche, der Tarassow als Erster entdeckt hatte, zögerte. Unmenschlich langsam brachte er die Waffe ins Ziel. Er fragte etwas. Der andere blaffte ihn an. Die Jäger stritten.
Selbst hier in der Wildnis war es Gesetz, dass derjenige, der den Hirsch fand, ihn auch niederstreckte. Doch der Deutsche wirkte unsicher. Tarassow war es egal, wer ihn erschoss. Nur bald sollte es sein …
Einer der Hunde schnellte mit dem Maul nach vorn. Tarassow erschrak. Der Finger des Deutschen zuckte ebenfalls.
Ein Feuerstoß verließ die Gewehrmündung wie das Speien eines Drachens. Das Abfeuern schaltete die Umgebungsgeräusche aus.
Tarassow fiel. Aber nicht der Schnee fing ihn auf, sondern der Fluss.