Kapitel 50
So spielend einfach war Kolka noch nie in ein Chefbüro gelangt. Die Assistentin Frau Lippner hatte ihr sogar die Tür aufgehalten und sich dabei ungewohnt gefällig nach dem Wohlbefinden von Brandner erkundigt.
Dazu plapperte Frau Lippner. Ihrem schräg gebundenen Halstuch, der leicht schiefen Frisur und den völlig verwurschtelten Sätzen nach zu urteilen, hatte die Frau genauso wenig geschlafen wie Kolka. Lippners Augenringe konnten jeder Kröte Konkurrenz machen. Die dick aufgetragene Schminke wirkte eher plump, als dass sie die Müdigkeit kaschierte. Kein Wunder! Immerhin musste Lippner vertretungsweise die Geschäfte führen und einen Notfallplan für das plötzliche Verschwinden beider Unternehmenschefs hatte man bei CORWEX nicht vorgesehen.
Als Frau Lippner die Tür von außen geschlossen hatte, ließ Kolka sich in Brandners komfortablen Bürostuhl mit integrierter Massagefunktion fallen. Sie entknitterte den Zettel mit der russischen Telefonnummer.
Mayak!
Mayak bedeutet Leuchtfeuer.
Sie glaubte immer weniger, dass es sich dabei um einen Firmennamen im herkömmlichen Sinne handelte. Nachforschungen im Internet hatten keinen einzigen Treffer ergeben. Völlig ausgeschlossen war es zwar nicht, dass einzelne russische Firmen das Internetzeitalter verschlafen hatten, aber es kam ihr auch nicht besonders realistisch vor.
Gerade als sie sich über den Schreibtisch zum Telefon beugte, klingelte es. Sie zuckte zusammen, dann bemerkte sie, dass es ihr eigenes Handy war. Sie sah nach dem Anrufer und schüttelte den Kopf.
Vergiss es, Erik! Egal, was du von mir willst, es bedeutet Ärger.
Entschieden drückte sie ihn weg. Sie stellte das Handy auf lautlos und ließ es in der Jackentasche verschwinden. Mit klopfenden Herzen begann sie, die Nummer in Brandners Apparat einzutippen.
Reiß dich zusammen, es ist ein Telefonat wie jedes andere.
Ihr Finger berührte die letzte Ziffer.
Ist es das wirklich?
Der Rufton erklang. Fünfmal. Jemand hob ab. Ohne jegliche Begrüßungsformel. Stattdessen fragte eine ruppige Männerstimme: »Chto?«
»Hello!« Kolka bemühte sich, Nachdruck in ihre englische Aussprache zu legen. »I am from Germany …«
Aufgelegt.
»Mist!«
Und sonderbar.
Die erneute Anwahl brachte keinen Erfolg. Wenigstens wusste sie jetzt, dass sie es nicht mit einem toten Anschluss zu tun hatte. Und das war ein gutes Zeichen, vom Gefühl her allerdings eher beunruhigend. Wenn sie zurück in die KPI ging, würde sie sämtliche Telefonverbindungsnachweise von CORWEX überprüfen müssen.
Vorher wollte sie jedoch die Telefonnummer von Brechts Büro aus erneut anwählen.
Das flackernde Licht in der alten KFZ-Halle störte den Mann nicht. Obwohl das Gebäude seit mindestens drei Jahren leer stand, konnte er sich noch das Heulen der Motoren vorstellen und den Geruch der Auspuffanlagen in der Lunge spüren.
Der Mann prüfte Igors Fesseln und beugte sich über ihn. »Unbequem?«
Igor schnaufte wie ein Walross. Die Lippen presste er aufeinander. Die Haut um sein linkes Auge sah schlimm aus. Fast wie bei einem fauligen Apfel. An der Nase war das Blut mittlerweile getrocknet.
»Oh, ich verstehe! Du möchtest lieber in unserer Muttersprache kommunizieren«, sagte der Mann und fügte in Russisch an: »Kein Problem.«
Auf dem rasierten Schädel von Igor glänzten dicke Schweißperlen. Obwohl er gefesselt an der defekten Hebebühne kauerte, hatten ihn die letzten Stunden viel Ausdauer abverlangt. Und die kommenden Tage würden für ihn keinesfalls angenehmer werden.
»Wir kennen uns noch nicht«, redete der Mann im fließenden Russisch weiter.
Daraufhin begann Igor zu husten. Bald gab er ein Lachen von sich, unfreundliche Töne tief aus seiner Brust. »Und ob ich dich kenne!« Er spuckte aus. »Aber ich werde dich schon bald vergessen haben.«
Der Anflug von Standhaftigkeit überraschte den Mann. »Ist das so?« Er dachte darüber nach, auf derlei Provokation mit einer altbewährten Foltermethode zu reagieren. Ja, es wurde wieder einmal Zeit für die Nadeln. Im Kalten Krieg hatte er durch die kleinen Helferlein viele Leute zum Sprechen gebracht. Seine Regierung hatte das damals von ihm verlangt. Inzwischen arbeitete er als Privatunternehmer.
Der Mann lächelte zurück. Dabei kratzte er sich am Hals. Das war auch das Letzte, was er tat, bevor man ihm einen Sack über den Kopf zog.
Ich bin alt und nachlässig geworden, dachte er, als er zu Boden ging.
Stark brauchte nur einen flüchtigen Blick, um die orangefarbenen Haare von Donners Praktikantin zu erkennen. Nina Richters Leiche lag hinter einem Bushäuschen, notdürftig mit Laub und ein paar Zweigen abgedeckt. Der Hund eines Blinden hatte sie erschnüffelt.
Geradezu bildlich stellte Stark sich die Szene im Lagezentrum vor: wie ein Blinder dem Beamten per Notruf erklärt hatte, dass hier ein Toter liege, er ihn aber nicht beschreiben könne, weil er ihn nicht sehe.
Stark beneidete den Finder. Er würde sich nie an den Anblick erinnern müssen. Dafür tat ihm der Blindenführhund leid. Auf Stark wartete ebenfalls ein Golden Retriever zu Hause. Er gehörte zur gleichen Rasse wie der Hund, der in diesem Moment drei Meter von ihm entfernt wie die treuste Seele hechelte. Stark bedauerte das Tier. Er wusste, dass Hunde ein besonderes Empfinden besaßen. Kein Mensch scherte sich darum, wie Hunde einen solchen Leichenfund verarbeiteten.
»Man hat sie erschossen und ihr ein Ohr abgeschnitten«, erläuterte Marie Lehnhard, die für Stark mitschrieb und die Fakten zusammentrug. »Als Tatwaffe kommt ein Gewehr infrage. Eventuell dasselbe, mit dem man Stefan Zornitz umgebracht hat. Der Täter hat sich keine Mühe gegeben, sie zu verstecken.«
»Für mich ergibt sich hier trotzdem kein einheitliches Tatbild.«
»Denkbar, dass Brandners Flucht dem Täter einen Strich durch die Rechnung gemacht, weshalb die Zeit fehlte, die Frau verschwinden zu lassen.«
An dieser Theorie zweifelte Stark. Für ihn sah alles danach aus, als legte jemand bewusst falsche Fährten. Diese Einschätzung behielt er vorerst für sich.
»Wir kriegen Anton Below!«, versprach Lehnhard, aber ihr Optimismus kam nicht bei ihm an.
Wenn es stimmte, was Totner ihm über den Ex-KGB-Mann erzählt hatte, zweifelte Stark auch an dieser Aussage. Genau genommen hatten sie jede Menge Leichen, aber keinen blassen Dunst, was das Ganze sollte.
»Wo genau hat der ADL Felix Brandner aufgelesen?«, fragte Stark.
Lehnhard blätterte in ihren Unterlagen, deren Seiten durch den Wind hin und her flatterten. Endlich tippte sie mit einem Finger auf die entsprechende Notiz. »Weißer Weg, unweit der Mülldeponie. Das ist keine zweihundert Meter von hier entfernt.«
Stark nickte. »Dann los! Ich will, dass sämtliche Abrissgebäude im Radius von einem halben Kilometer durchsucht werden.«
Während Lehnhard davontrabte, klingelte Starks Diensthandy.
Er nahm das Gespräch an.
»Das Krankenhaus hat uns die verschmutzte Kleidung und die Schuhe von Felix Brandner übergeben«, berichtete der Kriminaltechniker am anderen Ende.
»Ja und warum rufst du mich deswegen an? Sicherstellen und untersuchen!«
»Ich glaube, wir haben da bereits etwas entdeckt. Etwas, das äußerst merkwürdig ist …«
Lilly Brandner drückte Skipper an ihr Herz. Dem Pinguin konnte sie alles erzählen. Und sie musste erzählen, solange sie allein war. Denn sobald sich Erwachsene im Raum befanden, fielen ihr die Worte nicht mehr ein, die sie sagen wollte. Ein Anzeichen von Dummheit. Trotzdem wollte sie so bald wie möglich wieder in die Schule gehen.
Das Anklopfen erschreckte sie. Lilly setzte sich auf ihr Bett und wartete. Es war die nette Ärztin. Die kleine hübsche. Die, die ihr jeden Tag Süßigkeiten zum Nachtisch hinlegte.
»Lilly«, flüsterte die Ärztin. Sie lächelte dabei. Das tat sie immer.
Lilly tippte den Pinguin an, damit er zurücklächelte.
»Dein Vater ist hier.«
Es dauerte eine Weile, bis Lilly begriff, was ihr die Frau damit sagen wollte. Ihr Lächeln log nicht. Dennoch zweifelte Lilly an der Wahrheit, denn sie fürchtete, dass es der böse Mann war, der sich nur als ihr Vater ausgab.
»Er möchte dich unbedingt sehen. Bist du dazu bereit?«
Nein!
Der Pinguin nickte.
Daraufhin lächelte die Ärztin breiter und ging zurück zur Tür.
Sekunden später betrat der Mann den Raum.
Rammler versuchte vergeblich, seinen Kontaktmann zu erreichen. Seit einer Stunde kam kein Telefongespräch zustande.
Ungewöhnlich. Möglicherweise war etwas schiefgelaufen.
Er schaute auf seine Uhr. Ihm blieben knapp zwei Stunden.
Sollten Sie versuchen, mich zu kontaktieren und innerhalb von einhundertundachtzig Minuten nicht erreichen, ist die Mission gescheitert, hatte der andere einmal gesagt.
Bevor Rammler jedoch seine Koffer packte, wollte er gut nachdenken. Dazu holte er das Tütchen mit dem Ritalin hervor. Womöglich wurde es Zeit, die Zelte abzubrechen. Gänzlich ungelegen kam ihm das nicht. Er mochte die Stadt mit ihren weitläufigen Alleestraßen rund um das Zentrum nicht. Selten hatte er eine Großstadt erlebt, deren Stadtkern sich so großräumig wie auf einem Messegelände anfühlte. Wie sehr sehnte er sich in die Altstadt von Wiesbaden zurück.
Fairerweise musste man der hiesigen Örtlichkeit zugestehen, dass sie im Zweiten Weltkrieg einem heftigen Bombardement durch die Alliierten ausgesetzt gewesen war. Mit diesem Wissen hatte sich die Stadt prächtig entwickelt. Zudem waren die Frauen hier äußerst attraktiv …
Die Zimmertür sprang auf. Der Kollege vom LKA Sachsen hatte nicht angeklopft.
»Was gibt es?«, fragte Rammler und ließ das Tütchen unauffällig in der Jacketttasche verschwinden.
»Sie haben uns versprochen, sich um die neugierige Kollegin zu kümmern.«
»Annegret Kolka?«
»Offenbar haben Sie sie unterschätzt.«
»Was hat sie diesmal angestellt?«
»Sie hat die Nummer gewählt. Mehrfach!«