Kapitel 17

 

Atmosfera.

Die Buchstaben stachen aus pinkfarbenen Leuchtstoffröhren in den rabenschwarzen Himmel. Technobässe drangen dumpf aus dem Gebäude. Eine Stufe höher und der Gehweg würde vibrieren.

»AF«, murmelte Donner, während er die dunkel gestrichene Glasfassade musterte. »Scheinbar hast du doch das Zeug zu einer guten Ermittlerin.«

Nina Richter nahm das Lob mit einem Lächeln entgegen. »Ihr verschwundener Kollege hat mit der Abkürzung unter Garantie diesen Klub gemeint. Im Heckert-Gebiet ist das der angesagteste Tanzschuppen. Früher kamst du als Nicht-Russe niemals auch nur in die Nähe der Eingangstür, höchstens bis zur anderen Straßenseite. Weil die Tanzlokale in der Stadt allesamt Besucherprobleme haben, duldet man hier mittlerweile die Deutschen. Klar, hin und wieder wird die Völkerverständigung mit Fäusten ausgetragen, aber bei Problemen macht der Betreiber kurzen Prozess. Die Security versteht so viel Spaß wie der Papst beim Glücksspiel. Das sollten Sie sich merken für den Fall, dass Sie auf Ärger aus sind.«

Er ließ den Seitenhieb unkommentiert und betrachtete misslaunig die Besucherschlange, die sich vor dem Einlass aufreihte. Ein Großteil der zumeist jugendlichen Gäste stand trotz der frostigen Frühlingsnacht kurzärmelig da. Die hintersten ließen eine Flasche Wodka Gorbatschow herumwandern.

»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte Nina Richter überrascht, als er Anstalten machte, sich wie alle anderen brav in die Reihe zu stellen. Sie hakte sich bei ihm ein und schleifte ihn wie ihren Liebhaber an den Wartenden vorbei zum Eingang. Direkt auf die drei Hünen zu, deren Lederjacken bereits symbolisierten, was für finstere Typen darinnen steckten.

»Tu mir einen Gefallen«, flüsterte er. »Hör auf, mich zu siezen.«

»Schön, dass du den ersten Schritt machst, Erik.« Sie lehnte ihren Kopf leicht an seine Schulter und sah mit einem feurigen Wimpernaufschlag zu ihm hoch.

Gott, sie ist die Tochter des Leibhaftigen! Und ich bin ein alter Mann mit einem jungen Ding am Hals.

»Und du möchtest dich da drinnen wirklich nur umschauen?«

»Na sicher«, brummte er. Was er in der nächsten Minute tun würde, wusste er jedoch selbst nicht. Es gab keinen Anlass, das dem Mädchen auf die Nase zu binden.

»Wie alt bist du eigentlich?«

»Falsche Frage. Ganz falsche Frage.« Frustriert dachte Donner daran, dass er in drei Tagen vierzig wurde.

Sie erreichten den Einlass, wo sich sofort einer der Türsteher in Position brachte. Donner war nicht der Kleinste, aber was Körpergröße und Muskeln angingen, zog er im direkten Vergleich mit dem Kerl den Kürzeren.

»Hallo Pavel«, begrüßte Nina den Muskelprotz.

Sie fiel ihm um den Hals und die beiden küssten sich. Seine Hände rutschten dabei an ihren Hintern. Ein wenig überflüssig kam sich Donner jetzt schon vor. Er versuchte den Coolen zu mimen, was angesichts seines Äußeren grundsätzlich scheitern musste. Nicht nur die Türsteher, auch die Besucher in vorderster Reihe musterten ihn mit Abscheu.

Nach Ninas kurzem Bezirzen trat Pavel beiseite und sie zog Donner an der Hand ins Innere des Atmosfera. Trotz der spärlichen Beleuchtung bemerkte sie offenbar seinen fragenden Gesichtsausdruck.

»Keine Angst, zwischen mir und Pavel läuft seit einer Ewigkeit nichts mehr.«

»Und wenn schon, was kümmert es mich? Hauptsache, wir sind drin.«

Nachdem sie einen verwinkelten Gang passiert hatten, in dem ihnen etliche knutschende Pärchen und bekiffte Halbleichen begegnet waren, setzte er seinen Fuß in eine Halle, die den industriellen Charme einer verlassenen Fabrik versprühte. Feuchte Hitze, Schweiß und der Geruch von Jahrzehnte altem Mauerwerk schlugen Donner entgegen. Im zuckenden Laserlicht meinte er sogar, die Schweißperlen im Nacken der Tanzenden zu erkennen. Die Stimmung kam ihm aggressiv euphorisch und angereichert mit Wollust vor. Unter Garantie versprühten sie mit den Nebelmaschinen Sexuallockstoffe für die Kids.

Schlagartig erinnerte sich Donner an seine Jugendzeit, in der er die eine oder andere Braut abgeschleppt hatte. Bei allen Eskapaden – mit dem heutigen Auftreten der Teenager konnte man die damalige Zeit nicht vergleichen. Angesichts des hier vorherrschenden hemmungslosen Treibens sah er sich regelrecht als Waisenknabe. Im Nachhinein betrachtet hatte ihn sein strenger Vater vor einigen Fehlern bewahrt. Hauptsächlich störte er sich jedoch an den elektronischen Klängen. Die Lautstärke der Musik würfelte gefühlt all seine Knochen durcheinander. Am liebsten hätte er sich die Ohren zuhalten, aber den Vibrationen der Boxen konnte er innerhalb der Halle unmöglich entkommen.

»Ich hol uns zwei Martini«, schrie Nina Richter ihm ins Ohr.

Ja, und am besten einen vollen Wassereimer zum Saufen, bevor ich einen Hitzeschlag erleide.

Er stand kurz davor, sich Mantel und Hemd vom Leib zu reißen. Freie Oberkörper gab es hier in Massen. Einige der männlichen Anwesenden verbogen diese zum Takt der Musik schlangenartig nach allen Seiten. Selbst ein paar Mädchen trugen oben herum nur halbdurchsichtige Büstenhalter.

Während Nina die Getränke organisierte, wollte er sich umsehen.

Obwohl in der Halle ein luftraubendes Gedränge herrschte, machte man ihm bereitwillig Platz. Eine junge Dame erschrak heftig, als sie seinen Weg kreuzte und ihm direkt ins Gesicht stierte. Mehrere Jugendliche zeigten mit dem Finger auf ihn. Im Halbdunkel wirkte seine Visage vermutlich noch eine Spur furchterregender.

Ich bin der verdammte Moses und teile das Meer der Zügellosigkeit.

Nachdem er sich einen Überblick im Klub verschafft hatte, zog er sich in eine Ecke zurück, in der ein paar Traktorreifen als Sitzgelegenheit lagen. Statuen aus rostigem Eisen trennten knutschende Pärchen von der Tanzfläche. Von Nina Richter war nichts mehr zu sehen. Vermutlich suchte sie ihn. Als er Ausschau nach ihr hielt, entdeckte er im Gewühl plötzlich ein bekanntes Gesicht. Einer der Security-Leute hatte Ähnlichkeit mit einem ehemaligen Boxer, den Donner von früher kannte. Schnell lief Donner ihm hinterher und passte ihn vor einer Tür zu einem Privatraum ab.

»Lennie?«

Der Angesprochene drehte sich um und blickte ihn einigermaßen verwundert und mit fiebrigen Pupillen an. Scheinbar hatte er irgendwelche Drogen genommen.

»Erik?« Lennie Iljanow sah nach links und nach rechts, rieb sich wie ein Kokssüchtiger die Nase. »Wie bist du hier reingekommen? Das ist kein Klub für Bullen.«

»Warum so aggressiv?« Donner rechnete nach. Zuletzt hatten sie sich vor sieben oder acht Jahren gesehen. Der damals Vierundzwanzigjährige war nie ein überragendes Boxtalent gewesen. Zu viel Muskelmasse, zu wenig Beinarbeit.

In einer Art freundschaftlicher Geste gab Iljanow ihm einen Klaps gegen den Oberarm. »Komm schon, Erik! Ich bin einfach überrascht, dich hier zu treffen. Hab mal was von dir in der Zeitung gelesen. Die Sache mit deinem Kind und dann auch noch der Tod deiner Frau … Scheiße, du kannst einem echt leidtun.« Sein Lächeln drückte Unsicherheit aus. Wieder sah er sich aufmerksam um, als wollte er nicht mit ihm gesehen werden.

»Kennst du einen Igor?«, kam Donner auf den Russen zu sprechen, den er suchte.

»Mir unbekannt«, kam es ohne Verzögerung zurück.

»Echt nicht? Hab gehört, er verkehrt im Atmosfera

Iljanow schüttelte den Kopf und legte eine Hand an den Türknauf. Mit der anderen zog er einen Schlüssel hervor. »Da musst du dich verhört haben. Also, ich muss dann mal arbeiten …« Er tippte auf den Schriftzug Security im Brustbereich seines T-Shirts und deutete mit einem Nicken zum Raum, dessen Tür weiterhin verschlossen war.

»Klar«, täuschte Donner Verständnis vor und verabschiedete sich mit einem Schulterklopfer. Er ging ein paar Schritte abseits. So unauffällig wie möglich spähte er nach hinten.

Als Iljanow in dem Privatraum verschwand, eilte Donner zurück und klemmte gerade rechtzeitig ein Taschentuch zwischen das Schloss und der zufallenden Tür. Sekunden später folgte er seinem ehemaligen Boxerkollegen.

Der Raum hinter der Tür war bloß ein weiterer Gang. Üppige Malerei aus seltsamen Tiermotiven, hauptsächlich in silbernen und goldenen Farben, zierten die Wände. Es roch auch angenehmer als in der Halle. Schweiß- und Alkoholgeruch fehlten fast vollständig. Donner dachte darüber nach, ob er besser seine Pistole mitgenommen hätte, aber er war nicht auf eine Schießerei aus. Er brauchte lediglich Informationen, wohin Zornitz verschwunden war.

Wie naiv bist du eigentlich? Du gehst hier nicht in einem Kindergarten spazieren.

Zur Not musste er auf die gute alte Faust-auf-Nase-Methode zurückgreifen.

Doch er kam nicht weit. Kaum machte er einen Schritt auf die massive Tür zu, trat ihm bereits ein Türsteher entgegen.

»Hey, du Flachwichser! Was hast du hier zu suchen?« Drohend ließ der Wachmann die Schultern kreisen. Ihm fehlte ein Stück vom rechten Nasenflügel. Von der Mimik her sah er völlig abgebrüht aus und seine Fäuste krachten gegeneinander.

Donner zögerte nicht und hielt die Kripomarke hoch. Aber Halbnase schlug die Hand mit der Marke zu Seite, packte Donner am Kragen und wollte ihn gegen die Wand pressen.

Donner reagierte blitzschnell. In einer fließenden Bewegung verdrehte er Halbnase den ausgestreckten Arm und ließ seine Faust gegen das Kinn des Angreifers krachen.

Halbnase taumelte zur Seite. »Ich mach dich fertig, Frankenstein!« Seine Zähne stachen im Neonlicht hell hervor. Für einen Türsteher hatte der Kerl ein einwandfreies Gebiss.

Donner wartete nicht ab, sondern schlug erneut zu. Direkt auf die Vorderzähne. Getroffen fasste sich Halbnase an die blutenden Lippen.

Plötzlich wurde Donner hart zu Boden gestoßen. Als er sich umsah, erkannte er Pavel, den Türsteher, der ihm und Nina Richter Eintritt verschafft hatte. Gemeinsam beugten sich die beiden Hünen nun über Donner.

»Was ist hier los?«, hallte eine emotionslose Stimme mit hörbar osteuropäischem Einschlag zu ihnen herüber.

Donner rappelte sich auf. Als er freie Sicht hatte, erkannte er einen fettbäuchigen Typen, der zwischen den Fingern der rechten Hand mit einem beeindruckenden Nagel spielte. Einem goldfarbenen Zimmermannsnagel.

Hinter dem Dicken standen drei weitere Muskelprotze, darunter auch Iljanow. Wie seelenlos starrten sie Donner an.

»Ist das der Bulle, der nach mir gefragt hat?«, fragte der Fette auf Russisch.

Iljanow nickte.

Das ist also Igor!

Donner ließ sich nicht anmerken, dass er im Russischunterricht stets einer der Besten gewesen war und bei einem Schülerwettbewerb in der 8. Klasse sogar eine Reise nach Moskau gewonnen hatte.

»Schafft ihn hinten raus«, befahl Igor ohne den Hauch von Mitgefühl. Dabei drehte er sich weg, als hätte er den Zwischenfall bereits vergessen. »Und seine Nutte bringt ihr zu mir.«

Scheiße, Nina!

»Ich klär das«, tönte Iljanow, wobei er entschlossen aussah.

Donner gab sich nicht dem Irrglauben hin, dass sein einstiger Boxerkollege Nachsicht kannte. Als Iljanow auf ihn zutrat, sagte Donner: »Weißt du, Lennie, du warst nie gut auf den Beinen.«

Damit schoss Donners Faust nach vorn und traf Iljanow mitten in die Magengrube. Wie von Gotteshand getroffen, sackte Iljanow zusammen. Das wilde Pack der Türsteher stürzte sich auf Donner. Ihm blieb der Ruhm von ein paar gelungenen harten Treffern, bis man ihm das Bewusstsein ausknockte.

Blut und böser Mann
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