Kapitel 39
Donner hatte sich umentschieden. Er hatte den Wagen gestartet und war unverrichteter Dinge vom Atmosfera zum Pfandhaus gerast. Dafür hasste er sich.
Von der erwähnten Straßenseite gab es keinen Zugang zum Gebäude. Der Eingang war mit Brettern und Nägeln verrammelt. Selbst als er um die Ecke spähte, wirkte das Innere verlassen. Der Anrufer hatte Donner reingelegt. In letzter Zeit war hier bestimmt niemand ein und aus gegangen. Die Hausfassade reihte sich ein in den armseligen Anblick der leer stehenden Nachbarobjekte. Er fragte sich, was die Straßenlaterne an dem Ort überhaupt erhellen wollte. Sämtliche Fenster in dieser Ecke blickten geisterhaft auf ihn herab.
Den Baseballschläger hielt er mit einer Hand wütend umklammert. Zwei Männer torkelten ihm entgegen. Als er den länglichen Gegenstand leicht anhob, wechselten sie hastig die Straßenseite.
Donner schlich die Häuserfront entlang, in der Hoffnung, einen Zugang zu finden. Ein lauer Wind wehte ihm ins Gesicht. Dafür wirkte der sternenklare Himmel eisig kalt.
Woher weiß der Fremde von Lu?
Der vietnamesischstämmige Unternehmer sollte für Donner etwas zu der gefälschten Swarovski-Figur herausfinden. Möglicherweise war Lu das gelungen. Zu dessen Nachteil …
Die Statue war eine Spur, ein Hinweis. Das hatte Donner bereits gewusst, als er die Kartons mit den Fälschungen im Atmosfera entdeckt hatte. Aber wem gehörten sie? Lutschenko oder doch jemand anderem?
Um besser nachdenken zu können, suchte er in seinen Manteltaschen nach Zigaretten und Feuerzeug. Die Wut, die seine Eingeweide durchknetete, trug nicht dazu bei, einen klaren Gedanken zu fassen. Er fand das Feuerzeug. Die Zigarettenpackung hatte er wie so oft vergessen.
Lu wohnte drei Straßen weiter. Donner brauchte Gewissheit, ob er sich zu Hause befand und es ihm gut ging. Auch wenn er dafür kostbare Minuten verplemperte.
Ohne zusätzliche Zeit zu vergeuden, lief er zum Wagen. Gerade als er die Fahrertür zuknallte, rollte ein SUV mit getönten Scheiben an die Kreuzung, wo das Pfandhaus stand. Instinktiv löschte Donner die Innenbeleuchtung, rutschte im Sitz ein Stück tiefer und presste den Kopf hinter den Mittelholm der Karosserie, um nicht entdeckt zu werden. Der Geländewagen bog ab und hielt nach zwanzig Metern vor einer Grundstückseinfahrt.
Der Fahrer stieg aus und öffnete das dort befindliche zweiflüglige Eisentor. Donner erkannte ihn sofort: seinen ehemaligen Boxkumpel Lennie Iljanow. Mittlerweile war er als Schläger im Dienst von Ivan Lutschenko, dem Betreiber des Atmosfera, tätig.
Vielleicht hatte der Anrufer doch nicht gelogen. Ja, es sah ganz danach aus, als würde tatsächlich ein Treffen im Pfandhaus stattfinden. Ein Treffen mit ungewissem Ausgang.
Obwohl es Donner dazu drängte, wie ein Tornado hinüberzustürzen, blieb er sitzen und beobachtete.
Iljanow stieg hinters Steuer und lenkte den SUV in die Einfahrt. Bald erloschen die Rückleuchten in der Dunkelheit. Sekunden später wurde das Tor von der anderen Seite geschlossen. Die Gegend wirkte auf einen Schlag so verlassen und so kalt wie zuvor. Eine trügerische Ruhe umgab Donner. Was hinter dem Tor passierte, sollte für fremde Augen verborgen bleiben, soviel stand fest.
Obwohl das Sportgerät auf seinen Knien bebte, schaute er weitere dreißig Sekunden auf die Uhr. Als die Luft rein war, stieg er aus und rannte über die Straße. Das Tor war nicht besonders hoch. Zudem nicht mit zusätzlichen Mitteln wie Metallspitzen oder Stacheldraht gesichert. Somit stellte es für einen normal sportlichen Mann von Donners Körpergröße keine Herausforderung dar. Aber praktisch gesehen war das nur Theorie. Der letzte Dienstsport lag im Nebel der Vergangenheit. Diese Faulheit hatte man bei seiner Beurteilung entsprechend gewürdigt.
Wenn die Sache ausgestanden ist, werde ich jeden Tag Sport treiben. Ich verspreche es mir selbst!
Das Bein mit dem invaliden Knie stemmte er gegen eine Mauerecke. Die Fingerspitzen beider Hände krallte er in eine Eisenstrebe, die mit Nieten quer am Tor angebracht war. Den Baseballschläger musste er mit zwei Fingern festhalten. Er nahm Schwung und zog sich nach oben. Natürlich rutschte er ab und krachte mit dem Hintern voran auf den Gehweg. Den Schmerz in den Pobacken verdrängend, entschied er sich, den Schläger über die Mauer zu werfen, in der Hoffnung er würde auf weicher Erde landen.
So viel Glück hatte er selbstverständlich nicht. Polternd schlug das Sportgerät auf der anderen Seite auf.
Donner schloss einen Moment die Augen, hielt die Luft an und lauschte. Auf dem Grundstück war keine Stimme. Er schaute nach rechts und links, ob ihn ein nächtlicher Spaziergänger beobachtete, und nahm Anlauf. Tatsächlich schaffte er es, die Kante des Tors zu ergreifen. Strampelnd und fluchend zog er sich darüber, wo er auf der gegenüberliegenden Seite abermals unsanft auf gepflasterten Boden aufschlug.
Während er sich den Dreck vom Mantel klopfte, griff er nach dem Schläger. Der Geländewagen stand einsam auf dem Grundstück, das als Ablageplatz für allerlei Schrott und Altreifen taugte. Genau so stellte man sich einen Hinterhof vor, in dem finstere Typen ehrbare und weniger ehrbare Bürger weichklopften. Donner war lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass die Filmkrimis in diesem Punkt nicht logen.
Die Tür, die nach drinnen führte, war nur angelehnt. Offenkundig hatten die Insassen der Edelkarosse nicht damit gerechnet, dass ihnen jemand folgte. Oder man hatte die Tür extra für ihn offen gelassen …
Im Treppenhaus des Gebäudes brannte eine Handvoll Glühbirnen, die aus beschädigten Lampenabdeckungen schauten. Weit oben erkannte er die Decke, über der vermutlich ein Dachboden lag. Er zählte drei Stockwerke. Doch die Stimmen kamen aus dem Kellergeschoss.
Den Schläger dicht am Körper, schlich er über herumliegenden Unrat in die Tiefe. Dabei streifte sein Mantelstoff mehr als einmal die Wand. Es war ein Katz- und Mausspiel. Er erkannte zwei verschiedene Männerstimmen mit russischem Akzent. Eine davon gehörte Iljanow. Unterbrochen wurden die beiden vom weinerlichen Klagen Lus. Das Flehen des Vietnamesen wurde von den Wänden bis ganz nach oben getragen, wo es ungehört verhallte. Donner durfte jetzt nichts übereilen.
Er schlich weiter bis zu einer Ecke, von wo er das Gespräch der drei Männer belauschen konnte. Sie befanden sich in einem Raum, aus dem gelbes Licht drang, das von Betonwänden zu einem grauen Schein gedämpft wurde. Eine passende Kulisse für einen Mafiafilm. Keine Frage, Lu würde innerhalb der nächsten Stunde unter den angekündigten Schmerzen den Verstand verlieren. Donner erfasste Satzfetzen, in denen die Worte Hammerschläge, Haut und Nägel vorkamen. Der Vietnamese kreischte, als man ihm drohte, die Arme auf eine Tischplatte festzunageln. Mehr als zehn Stahlstifte würde er nicht brauchen, so die Aussage des unbekannten Wortführers. Offenbar gehörten solche Verhöre zu dessen Alltagsgeschäft.
»Wer hat dich auf mich angesetzt?«, hörte Donner den Russen in sonorer, unaufgeregter Tonlage sprechen.
»Niemand«, log Lu.
»Lügen törnen mich an«, sagte daraufhin der Russe und Donner ahnte, dass es gleich schmerzhaft für den Vietnamesen werden würde.
»Nein! Bitte legen Sie den weg!« In Lus Stimme schwang nackte Panik mit.
Drei Schläge eines Hammers auf Metall durchbrachen das Flehen. Lu schrie wie von Sinnen.
»Also noch mal von vorn«, begann der Russe, als Lu sich beruhigte und nur noch wimmerte. »Du hattest eine Skulptur bei dir, die mir gehört. Ein Bulle hat mich bestohlen. Wie ist sein Name?«
»Ich weiß keinen Namen!«, winselte Lu.
»Komm, mach du das«, sagte der Russe. »Du bist ungeschickter als ich.«
Iljanow bejahte und abermals zerrissen Hammerschläge Donners Empfindungen. Mehr Hammerschläge als beim ersten Mal. Offenbar schwang Iljanow das Werkzeug wirklich unbeholfener. Entsprechend der Veränderung der Klänge hatte er mindestens einmal den Nagelkopf verfehlt.
Donner reichte es. Er musste etwas riskieren, wenn er Lu nicht sich selbst überlassen wollte. Ein letztes Mal wischte er die schwitzigen Hände am Mantel ab, dann schälte er sich aus dem Dunkel. Millimeter für Millimeter schob er sich zum Türeingang. Er wusste nicht, was ihn erwartete, er vertraute darauf, dass der Überraschungsmoment auf seiner Seite lag.
Direkt neben ihm an der Wand entdeckte er eine Fliege. Selbst im schwachen Licht schimmerte ihr Körper wie ein bunter lebendiger Hoffnungsfunke.
Das Adrenalin beflügelte Donners Organismus. Sein Brustkorb hob und senkte sich doppelt so schnell wie gewöhnlich. Seine Muskeln spannten sich, die Fingerknöchel am Griff des Baseballschlägers traten weiß hervor.
Er kam nicht allein.
Völlig aufgeputscht von dem, was kommen sollte, begann er, mit dem Insekt zu kommunizieren.
Okay, Frau Fliege, du gibst das Zeichen.
Die Fliege rührte sich keinen Millimeter vom Fleck.