Kapitel 18

 

Niemand konnte Donner sagen, wie lange er ohnmächtig in der Gasse gelegen hatte. Laut den Zeigern seiner Armbanduhr hatte er nur für ein paar Minuten einen Filmriss gehabt. Schätzungsweise. Eine Betreuung durch einen Notarzt lehnte er ab. Stattdessen stützte er sich mit dem rechten Ellenbogen auf eine Mülltonne und hielt sich mit der Hand die schmerzenden Rippenbögen. Mit einem Taschentuch in der Linken tupfte er sich die Nase, um das austretende Blut aufzufangen.

»Monster, du siehst furchtbar aus«, resümierte Kroll, während hinter ihm Uniformierte die Besucher aus dem Atmosfera trieben. Scharen von protestierenden Gästen verstopften die Wladimir-Sagorski-Straße. Von den angrenzenden Wohnblöcken steckten die Schaulustigen die Köpfe aus den Fenstern. Hier und da kam es zu Rangeleien mit der Polizei.

Zum Glück hatte man am heutigen Abend einen Zug Bereitschaftspolizisten zur Kriminalitätsbekämpfung auf beide Stadtreviere verteilt. Dem Außendienstleiter war es zu verdanken, dass diese Zusatzkräfte nun den Tanzklub stürmten. Auch wenn Donner es ungern zugab, aber in dem Fall hatte Kroll etwas gut bei ihm.

»Ist meine Nase gebrochen?«

Kroll trat dicht an ihn heran, packte Donner am Hinterkopf und rüttelte mit der freien Hand an der lädierten Nase. Donner ächzte.

»Könnte sein«, gab Kroll schulterzuckend von sich. »Auf jeden Fall macht es dich nicht hässlicher.«

»Danke, ich weiß das Lob zu schätzen.«

»Hör auf zu nörgeln. Holen wir lieber deine Praktikantin da raus. Ich frage mich, was du nachts mit einer blutjungen Kollegin in diesem Schuppen zu suchen hast.«

»Denk bloß nicht, dass da was mit ihr läuft.«

»Auf die Erklärung bin ich trotzdem gespannt, denn ich riskiere hier meinen Arsch, weil ich dir bei einer Sache helfe, die unter Garantie nicht nur deiner Freizeitbeschäftigung dient.« Kroll fasste sich ans Waffenholster, kontrollierte den Sitz seiner P7. »Das mache ich übrigens nicht für dich, sondern für die Praktikantin, die du da in eine miese Geschichte reingezogen hast.« Er zog die Lederhandschuhe straff und marschierte mit dem Schritt eines Generals zum Eingang.

Stöhnend schob sich Donner von der Tonne weg. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass seine Beine ihn trugen. Das reichte vorerst, auch wenn die Kerle ihm übel zugesetzt hatten und ihm sämtliche Knochen wehtaten. Jetzt mussten sie Nina Richter da rausholen. Aus den Fängen des Fettklopses mit dem Nagel.

So schnell es sein Zustand ermöglichte, hinkte er Kroll hinterher. Er kam gerade rechtzeitig, als die verschlossene Tür mit der Aufschrift Privat aufflog und eine schwer gerüstete Gruppe Polizisten unter dem Befehl von Kroll die dahinterliegenden Räumlichkeiten stürmte. Kroll selbst und sein Partner Lichtenberg zögerten keine Sekunde und folgten. Rufe und Kampfgeschrei drangen nach draußen. Im Getümmel aus Uniformen, Lederjacken und fallenden Männerkörpern musste er mehr als einmal in Deckung gehen, um nicht selbst zu Boden gestoßen zu werden. Zielstrebig schob er die Massen beiseite.

»Das ist das Dreckschwein Igor«, sagte er und wies auf den festgenommenen Fettklops.

Dieser lächelte müde zurück und stieß auf Russisch eine Beschimpfung aus. Donner verschwieg, dass er jedes Wort verstand. Den goldfarbenen Nagel, den er zwischen seinen Fingern balanciert hatte, hielt jetzt einer der Bereitschaftspolizisten und präsentierte ihn Kroll. Selbst ohne das Spielzeug wirkte der Fettklops gefährlich. Umringt von einer Horde Polizisten führte er sich unverdrossen wie der Herrscher dieses Unterweltschuppens auf. Für ihn waren alle Deutschen Weicheier. Das gab er offen kund.

Bestärkt vom passiven Widerstand ihres Bosses widersetzten sich einige der Leibwächter der Festnahme und drängten mit breiter Brust auf die Einsatzkräfte zu. Das hier war ihr Hoheitsgebiet. Das Gerangel dauerte nicht lang, dann machte sich die quantitative Überlegenheit bezahlt. Die letzten Handschellen klickten. Lichtenberg nahm einen besonders aggressiven Störer hart in den Schwitzkasten. Er gab ihm einen Stoß und zwei Polizisten führten ihn ab. Auf Krolls Anweisung hin brachte man alle bis auf den Fettklops zu den Fahrzeugen. Insgesamt dreizehn Muskelpakete, die meisten schweigsam, aber mit unverhohlener Antipathie für die Deutschen im Blick.

Endlich trat Nina Richter aus einem der Räume. Sie stierte wie in einem Tunnel geradeaus. Donner stellte sich ihr in den Weg. Als er sie berühren wollte, erschrak sie. Ihre Mascara war von Tränen verwischt, ihre Unterlippe war aufgeplatzt und blutete. Sie hielt sich die Wange. Offenbar hatte man sie geschlagen.

»Alles okay?«, erkundigte sich Donner. Etwas Gescheiteres fiel ihm nicht ein.

»Mir fehlt nichts«, antwortete sie mit harter Miene. Leise fügte sie an: »Ich hatte nur große Angst.«

Ich hatte auch Angst um dich.

Statt es auszusprechen, nickte er bloß. Am liebsten hätte er diesen Igor windelweich geprügelt, aber den Gefühlsausbruch bekam er unter Kontrolle.

Der Klubbetreiber beleidigte seine Bewacher, zerrte an den Handfesseln. Die verbliebenen Polizisten warteten auf weitere Entscheidungen des Außendienstleiters. Beiläufig sah Donner, wie Lichtenberg Kroll einen Ausweis und den goldenen Nagel reichte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Einen Moment später winkte Kroll Donner zu sich.

»Also, Erik, was ist das für ein Schwachsinn?«

»Was meinst du?«

»Der da heißt nicht Igor. Sein Name ist Ivan Lutschenko. Im Auskunftssystem ist er einschlägig verzeichnet. Gegen ihn gab es mal ein Verfahren wegen versuchten Totschlags, welches am Ende aber nur zur Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung reichte.« Zusätzlich hob Kroll den Nagel auf Augenhöhe. »Und das hier ist kein Nagel, sondern ein extravaganter Kugelschreiber!«

Als die Kugelschreibermiene per Knopfdruck raussprang, erkannte Donner seinen Irrtum. Verwirrt ließ er sich den Ausweis geben. Danach sah er sekundenlang zwischen dem Fettklops und Kroll hin und her. »Er hat etwas mit dem Verschwinden von Zornitz zu tun. Er hat es zugegeben, er sagte, er wäre Igor …«

Diese Aussage stimmte nicht ganz, musste Donner sich eingestehen. Der Mann hatte lediglich gefragt, ob Donner derjenige wäre, der ihn suchte. Vermutlich war es eine Finte gewesen. Den Namen Igor hatte der Klubbetreiber jedenfalls nie erwähnt.

Kroll verengte die Augen und schob den Unterkiefer bissig nach vorn. »Hör zu, Erik: Was er gesagt hat, ist absolut nebensächlich. Laut Ausweis heißt der hier nicht Igor. Im System ist ein Bild von ihm vorhanden. Die Kollegen haben es abgeglichen. Der ist definitiv nicht dein Mann.«

Unsanft packte Donner den Fettklops und zog ihn auf die Beine. Kroll ließ ihn gewähren.

»Wo finde ich Igor?«, blaffte Donner.

Der Fettklops zeigte bösartig die Zähne und spuckte ihm mitten in die Augen. Donner holte aus. Lichtenberg reagierte blitzschnell und fing die Faust ab, bevor sie Schaden anrichtete.

»Das reicht!«, entschied Kroll. »Führt den Kerl ab.«

Drei Polizisten schoben den Fettklops Richtung Ausgang. Donner wischte sich mit dem Ärmel den Speichel aus dem Gesicht.

Kroll hob drohend den Finger. »Ich weiß nicht, was der ganze Mist soll, aber du hast ein ziemliches Problem.«

»Aber der Kerl weiß was!«

»Schrei mich nicht an!« Krolls Gesichtszüge nahmen die eines Kampfhundes an. »Für dich ist hier Endstation.«

Allmählich erahnte Donner, was sein Vorstoß für Konsequenzen nach sich ziehen würde. Dabei vertraute er auf sein Gefühl, und das verriet ihm, dass mit dem Klub etwas nicht stimmte und es irgendwo einen Hinweis zum Verbleib von Zornitz gab.

Bevor ihn jemand aufhalten konnte, stürzte Donner in die Privaträume des Klubbesitzers. Krolls Proteste ignorierte er. Augenblicke später durchwühlte er Schubfächer und Regale der Einrichtung, die in ihrer Gesamtheit Al Capones Büro aus einem Mafiafilm ergaben. Fehlten bloß noch die herumliegenden Uzis.

»Was soll das werden?«, zürnte Kroll.

»Erik«, mahnte jetzt auch Lichtenberg. »Nimm endlich Vernunft an! Es ist vorbei. Wir haben deine Praktikantin, nur das zählt. Wir haben kein Recht, die Räume zu durchsuchen.«

Nein, ihr beiden habt keine Ahnung, was auf dem Spiel steht.

»Stefan Zornitz war da an einer ziemlich großen und vermutlich auch erschreckenden Sache dran und sein Verschwinden ist alles andere als normal.«

»Vielleicht besucht er seine Tante«, wandte Kroll ein. »Wir haben seine Freundin befragt. Die gab an, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn er für ein paar Tage verschwindet. Sie sagt, er braucht seine Freiheit. Also hör endlich auf mit deinen Hirngespinsten.«

Warum denkt jeder, Zornitz wäre verreist? Ich habe keine Lust zu warten, bis es zu spät ist.

An einer Wand standen mehrere Kisten aufgestapelt. Donner riss die Deckel der ersten auf. Was er darin sah, machte ihn stutzig. Jedoch kam er nicht dazu, den Inhalt genauer zu untersuchen. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Kroll entschlossen von der Tür auf ihn zustürmte, vermutlich um ihn vor weiteren Dummheiten abzuhalten. Ein Funkspruch, den der Außendienstleiter über seinen Knopf im Ohr empfing, hielt Kroll fast zeitgleich zurück.

Kurz darauf fluchte er. »Die Polizeipräsidentin ist persönlich auf dem Anmarsch.«

Wie angewurzelt blieb Donner stehen. Er brauchte nicht nachzufragen. Krolls Blick verdeutlichte ihm, dass dieser Abend einen unguten Ausgang nehmen würde.

»Der Polizeiführer hat die Präsidentin von unserem Einsatz in Kenntnis gesetzt. Inzwischen gibt es diverse Anfragen von Presseleuten wegen der Maßnahme hier.« Kroll fuhr sich durch seine grauen Haare. »Verdammt, Monster, deine Aktion ist völlig aus dem Ruder gelaufen! Raus jetzt!«

Donner nickte stumm und zog seine Hand aus der Kiste, die er gerade durchsucht hatte. Dabei ließ er unauffällig einen Glasgegenstand in seiner Manteltasche verschwinden.

Blut und böser Mann
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