Kapitel 36

 

Kolka riss sich das Pflaster von der Stirn. Vor den drei Männern kam sie sich damit einfach lächerlich vor. Die Wunde vom Sturz blutete längst nicht mehr.

»Das ist megascheiße!«, wetterte der sonst so beherrschte KPI-Leiter Moll und sah dann der Reihe nach Totner, Stark und zuletzt sie an.

Das Zimmer erschien zu klein für drei Vorgesetzte, die zu viel Testosteron produzierten und die für ihr angebliches Versagen soeben von höchster Stelle gemaßregelt worden waren. Moll zürnte, ohne Luft zu holen. Seine verbale Faust traf vor allem Totner als Leiter der Soko.

Unauffällig spähte Kolka nach ihrer Armbanduhr. Inzwischen war es fast zwanzig Uhr und ans Dienstende verschwendete sie keinen Gedanken. Sie fühlte sich unendlich müde. Allein das Bewusstsein, der Explosion unbeschadet entkommen zu sein, weckte ihre verbliebenen Energiereserven.

»Drei Tote im Conti-Loch!« Moll zählte an den Fingern ab. »Brandners Frau, ein Obdachloser und ein Polizist. Wie sollen wir das der Öffentlichkeit verkaufen? Wir hatten den mutmaßlichen Täter bereits. Doch anstatt Anton Below gleich nach der ersten Befragung festzunehmen, lassen wir ihn einfach gehen.« Jetzt sah er Kolka an, als würde er mit ihr kurzen Prozess machen wollen. Immerhin war sie es, die mit Below als Letzte gesprochen hatte.

Unruhig suchte sie nach einer bequemen Sitzhaltung.

Moll tobte weiter. »Ein Wunder, dass Sie bei Ihrer saudämlichen Aktion nicht draufgegangen sind. Glauben Sie mir, darüber bin ich äußerst erleichtert – und das meine ich in Ihrem eigenen Interesse und dem Ihres Sohnes!«

»Ich bin Hinweisen gefolgt, das erwartet man von mir«, verteidigte sie sich.

»Ganz ehrlich, bei einer Spitzenermittlerin wie Ihnen setze ich mehr Verstand voraus. Sie hätten Ihren Vorgesetzten unverzüglich informieren müssen. Jetzt stecken wir alle gemeinsam in ziemlichen Erklärungsnöten. Zu allem Überfluss bevölkern gerade Beamte vom LKA und sogar dem BKA die KPI-Flure. Die Aktivitäten unseres kleinen Bombenbastlers haben bis ins Bundeskanzleramt für Aufmerksamkeit gesorgt! Verflixt, ich kann mich nicht daran erinnern, wann wir zuletzt das BKA im Haus hatten.«

Kolka wollte vor Ärger am liebsten in die Stuhllehne beißen. Mittels eines Fernzünders hatte jemand eine Sprengladung in Belows Wohnung hochgehen lassen. Jetzt stand sie nicht nur mit leeren Händen da, sondern wie eine Idiotin. Fotos, Dokumente, ja selbst die Waffen waren zerstört worden. Nicht eine einzige Glasscheibe der Fenster war heil geblieben. Sogar die Eingangstür hatte der Druck der Explosion in den Hausflur geschleudert. Donner war regelrecht von ihr begraben worden. Obwohl die Feuerwehr zeitnah mit Wasser und Schaum angerückt war, hatte der Brand ganze Arbeit geleistet. Eine ordentliche Beweismittelvernichtung.

Laut den Fachleuten für unkonventionelle Spreng- und Brandmittel hatte man Reste von Ammoniumnitrat und Heizöl gefunden, was auf unkompliziert herzustellenden ANFO-Sprengstoff hindeutete. Und bei zwei Sachen waren sich die LKA-Experten einig: Kolka, Donner und sein Vater hatten tausend Schutzengel gehabt und derjenige, der den Sprengsatz deponiert hatte, wusste, was er tat.

»Eine Explosion in einem Wohnhaus«, fasste Moll zusammen. »Ein verschwundener Wohnungsinhaber, sämtliche Beweise zerstört und alles, was Kollegin Kolka vorzuweisen hat, ist ein nichtssagender Zeitungsartikel, der neun Jahre alt ist.« Er schubste die Klarsichthülle, in der sich der Zeitungsausschnitt befand, ein Stück weiter in die Tischmitte.

Kolka ärgerte sich nicht weniger als Moll. Wenn sie doch wenigstens ein paar der Reisepässe aus der Wohnung gerettet hätte!

Stattdessen so einen blöden Artikel über Brandners Vater.

»Wenigstens wissen wir jetzt, was mit Polizeimeister Stefan Zornitz passiert ist«, redete Moll mit Bedauern in der Stimme weiter. Wie zum Trotz stemmte er beide Fäuste in die Hüfte und sah Totner an. »Was für ein Debakel für unsere Direktion! Und wer kann mir Antworten auf meine vielen Fragen geben? Warum hat man ihn erschossen, während man Luis Reich und Brandners Frau erstochen hat? Und was zum Teufel ist mit Brandner selbst geschehen? In dem alten Kühlhaus wurden doch sein Blut und seine Geldbörse gefunden, oder nicht?«

»Das ist korrekt«, antwortet Totner. »Wir suchen mit Hochdruck im Conti-Loch nach einer weiteren Leiche. Allerdings ist die Baustelle vierzehntausend Quadratmeter groß. Wenn wir Glück haben, lebt er noch. Mit Pech liegt er tot an einer ganz anderen Stelle.«

»Ausreden interessieren mich nicht«, entschied Moll mit einer Wischbewegung. »Und wenn die Sonderkommission die gesamte Stadt umgraben lassen muss, ich will eine lückenlose Aufklärung der Taten. Vor allem will ich diesen Below hinter Schloss und Riegel sehen.«

»Warum sind das LKA und das BKA hier?«, nahm Kolka den Mut für eine Zwischenfrage zusammen.

»Sie müssen noch viel lernen, Kollegin.« Moll sprach ruhig, doch er betonte das letzte Wort auf besondere Weise. »Exakte Informationen wird Ihnen von denen niemand geben. Offiziell sagte man mir, man würde uns Unterstützung schicken, um schneller an Auskünfte übergeordneter und internationaler Behörden zu kommen. Mittlerweile schließt man nicht aus, dass Brecht und Brandner ins Ausland entführt wurden, deshalb führt SIRENE vom BKA regen Fernschreibverkehr. Alles zum Zwecke der Aufklärung. Ich müsste lachen, wenn die Angelegenheit nicht so prekär wäre! Wahrscheinlich jagen die einen international gesuchten Terroristen und uns erzählt man, es handle sich um Micky Maus.«

Der Gedanke war ihr auch schon gekommen.

Verdammt, Erik, wo hast du mich da wieder reingezogen?

Wie auf Bestellung klopfte es und zwei Männer und eine Frau betraten den Raum. Einer der Männer und die Frau stellten sich als Beamte des LKA vor. Und der dritte, der mit dem schnittigsten Anzug, fungierte als Berater vom BKA. Die Neuankömmlinge schüttelten jedem die Hand, was nicht so recht zu dem Sturm passen wollte, den Moll losgelassen hatte. Die drei fremden Kriminalisten lächelten. Das irritierte Kolka, wo doch alle im Raum unter gnadenloser Beobachtung des Staatsministeriums und damit unter enormen Druck standen.

»Wir würden uns gern mit Kriminaloberkommissarin Kolka unterhalten«, sprach die streng zugeknöpfte LKA-Beamtin. Eine Mittvierzigerin, so schätzte Kolka.

»Bitte!« Moll deutete auf Kolka.

»Allein«, ergänzte die LKA-Beamtin und legte eine dicke Aktenmappe auf den Schreibtisch, als wollte sie damit ausdrücken, dass die Unterhaltung die ganze Nacht in Anspruch nehmen würde.

Nach dem Moment des ungläubigen Schweigens war es Stark, der den Ausgang als Erster fand. Kaum hatte sich die Tür hinter den drei Kriminalisten geschlossen, verschwanden die freundlichen Züge in den Gesichtern der Verbliebenen. Die beiden Kollegen vom LKA sahen jetzt aus, als wollten sie Kolka fressen. Dagegen zeigte der BKA-Mann eine völlig ausdruckslose Miene. Offenbar lernte man das auf der ganz hohen Schule.

Kolka wusste nicht, vor wem sie sich mehr fürchten sollte: vor den LKA-Beamten, die rein äußerlich Geschwister sein konnten, oder dem BKA-Beamten mit den kernigen Wangen, dem gegelten Haar und den geradezu bis zum Erblinden funkelnden Lackschuhen.

»Dieser Erik Donner, ist das Ihr Freund?«, fragte die Frau.

Kolka legte ein Bein über das andere. »Wieso? Wollen Sie ihm eine Liebesofferte machen?«

»Pure Neugier. Hoffen wir, dass Sie sich in den kommenden Minuten weniger unkooperativ verhalten als er.«

»Oh, hat Erik Ihnen wehgetan?«

»Wie meinen Sie das?«

»Gewöhnlich reißt er Leuten, die zu viele Fragen stellen, die Herzen bei lebendigem Leib raus. Danach verspeist er sie roh. Beides: Herz und Körper.«

Über dem linken Auge der Kollegin entstand eine düstere Falte.

Der BKA-Kollege schmunzelte, ehe er sich mit den Händen in den Hosentaschen an die Wand lehnte und weiterhin still zuhörte.

»Behalten Sie Ihren Humor«, ging der Mann vom LKA dazwischen. »Können Sie uns auch etwas zu Ihren Entdeckungen in der Wohnung sagen? Nur deshalb unterhalten wir uns mit Ihnen.«

»Erst will ich wissen, warum Sie den Weg von Dresden und Wiesbaden bis hierher angetreten haben.«

Der LKA-Mann schwieg und schaute stattdessen hinüber zu seinem BKA-Kollegen.

Der zwinkerte Kolka zu, trat zum Tisch, hob den Zeitungsartikel vor seine Nase und sagte: »Mein Name ist Gabriel Rammler, Ermittler beim BKA. Haben Sie …?«

»Ist der Name echt oder ist das so eine Art Deckname von euch BKA-Typen?«

»Haben Sie eine Vorstellung, wer Anton Below ist?«, sprach Rammler einfach weiter.

Schade, dass er ihre Frage unbeantwortet ließ. Kolka hätte zu gern gewusst, ob seine gesamte Familie Rammler waren. Ersatzweise riet sie ins Blaue hinein: »Eine Art internationaler Terrorist?«

Wenigstens schaffte sie es mit dem Kommentar, ihre zwei Kollegen vom LKA zu erheitern.

»Micky Maus ist ein Terrorist«, sagte Rammler und pfefferte ihr ein paar Fotos auf den Tisch.

Sie schob sie auseinander und betrachtete die Bilder, die ein und dieselbe Person zeigten. Teilweise waren die Aufnahmen schwarz-weiß. »Das ist Anton Below in jungen Jahren!«

»Einige Fotos stammen aus der Zeit des Kalten Krieges.«

»Geheimdienst?«

»KGB«, konkretisierte Rammler.

»Das ist ein Witz, oder?« Die Fotos, an deren Echtheit sie nicht zweifelte, bekundeten allerdings das Gegenteil. »Warum arbeitet er bei CORWEX als Chauffeur?«

»Vielleicht, weil er so am ehesten an Brandner und Brecht rankam?«, erwiderte der LKA-Beamte süffisant.

Kolka tadelte sich für ihre eigene Dummheit. So einfach hatte sie es den Kollegen nicht machen wollen. Rammler rettete die Situation, indem er sich einen Stuhl heranzog und gegenüber von Kolka Platz nahm. Danach forderte er sie auf, ihm ihre Hände zu reichen.

»Ich denke gar nicht daran!«

»Geben Sie mir Ihre Hände«, forderte er mit Nachdruck. »Bitte!«

Da war etwas in seiner Sprachfärbung, das ihr heiß und kalt über ihre Brustwarzen lief. Sie gehorchte augenblicklich.

Er nahm sie, indem er seine Daumen in ihre Handinnenflächen legte.

»Versuchen Sie da eine Art Lügendetektortest, Sie Medium?«

Er fiel in die ausdruckslose Erscheinung zurück, die er schon vor ein paar Minuten gehabt hatte. Dabei sah er ihr in die Augen, als könnte er auf diese Weise ihre Gedanken kontrollieren, und fragte: »Was wissen Sie über S65?«

Blut und böser Mann
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