Kapitel 63
Lilly kroch. Die Kälte kroch ihr hinterher.
Sie wusste nicht, was schlimmer war: der Wald mit seinen vielen spitzen Stöckchen und scharfen Wurzeln oder der Abwasserkanal mit seinem stinkenden Matsch, der sich bis tief in ihren Ohren festgesetzt hatte.
Lilly war vollkommen nackt. Wenn sie nur eine Jacke oder wenigstens ein T-Shirt hätte. Der böse Mann hatte ihr die Kleidung abgenommen. Dabei hatte er Emma mit dem Gewehr bedroht.
Er war nicht nur ein böser Mann, sondern hinterlistig, denn sobald Lilly sich entkleidet hatte, hatte er dem Pinguin den Kopf weggeschossen. Während weißer Plüsch durch die Luft flog, war Lilly weinend losgelaufen.
Inzwischen weinte sie nicht mehr. Sie lauschte dem Flüstern der Blätter und dem Gerede der Insekten und Schnecken. Im Gegensatz zu dem Abwasserkanal war hier alles groß. Obwohl sie sich unter freiem Himmel befand, fühlte sie sich dennoch eingesperrt wie ein Käfer in einer Streichholzschachtel.
Trotz ihres Alters wusste sie ganz genau, dass man sie in ein Gefängnis gesperrt hatte. Der böse Mann spielte Hase und Jäger mit ihr. Am Ende, falls er sie finden sollte, würde er sie ebenfalls erschießen.
Lilly verstand nicht, warum. Sie hatte ihm ihr ganzes Leben lang vertraut …
Anders als in dem Abwasserkanal hatte der böse Mann diesmal behauptet, er wäre nicht ihr Vater. Dabei sah er genauso aus wie ihr echter Vater. Er hatte sie in dem Krankenhaus besucht, aber schon da war die Begegnung sonderbar gewesen. Ein falsches Lächeln hatte auf seinen Lippen gelegen. Er hatte ihr keinen Kuss gegeben, wie ihr Vater es eigentlich tat.
Stattdessen hatte er sie aus der Klinik entführt. Er hatte ihr den Mund zugehalten, seine Hand auf ihre Brust gelegt und geflüstert, er würde ihr an dieser Stelle die Haut aufschneiden und ihr das kleine, heftig pochende Herz mit einer Zange herausreißen, wenn sie nur einen Laut von sich geben würde.
Eingeschüchtert hatte sie genickt. Daraufhin war sie mucksmäuschenstill mit ihm gegangen. Er hatte sie zu dem Waldstück gebracht, wo das finstere Stallgebäude stand, das aussah wie ein riesiger Zwinger. Dort hatte das andere Mädchen gewartet. Emma Brecht. Lilly kannte sie, denn wenn ihre Eltern gemeinsam gefeiert hatten, hatten sie manchmal miteinander gespielt.
Aber Emma war nicht ihre Schwester, so wie der böse Mann behauptet hatte. Lilly hatte keine Schwester.
Oder etwa doch?
Der böse Mann, der aussah wie ihr Vater, hatte getobt und geschworen, sie umzubringen.
Jetzt blieb Lilly still auf allen vieren stehen. Ängstlich spähte sie hinter sich. Sie kam sich wie ein Reh vor, das eine Gefahr witterte. Allerdings konnte sie niemals so schnell rennen.
Vor ein paar Augenblicken hatte sie in der Ferne Schüsse gehört. Daraufhin war sie in eine andere Richtung geflüchtet. Sie war weit genug entfernt.
Der Abend brachte Feuchtigkeit und Kälte, die sich über sie legten wie ein Fangnetz. Es war Frühling, aber es fühlte sich wie Winter an. Dennoch war sie in Sicherheit. Sie war in Sicherheit …
Bis es ohrenbetäubend krachte.
Die Zweige über ihrem Kopf wurden davongeschleudert.
Der Jäger hatte sie entdeckt und das Gewehr abgefeuert.
Kreischend lief sie davon.
Sie war ein flüchtendes Kaninchen und rannte, so schnell es ihre schmerzenden Knie und die eisigen Zehen zuließen. Wieder liefen die Tränen. Die Umgebung flog nur so an ihr vorbei und die Bäume des Waldes nahmen die schrecklichen Gestalten unzähliger schwarzer Kinderfänger an. Sie sprang und krachte im vollen Lauf gegen ein Hindernis, durch welches sie zurückgeschleudert wurde.
Sofort rappelte Lilly sich wieder auf und rüttelte an dem Maschendrahtzaun, der ihr den Weg versperrte. Er war mehr als doppelt so hoch wie sie. Aber indem sie den Draht zwischen die Zehenzwischenräume nahm, versuchte sie hinaufzuklettern.
Es klappte.
Bis sie fiel.
Der böse Mann trat hinter sie. Lilly spürte seine Anwesenheit und drehte sich ganz langsam um.
Der böse Mann hatte sich in eine Frau verwandelt. In die Gestalt der netten Polizistin aus der Klinik.
»Ruhig! Hab keine Angst. Ich bin bei dir, um dich zu beschützen.« Die Frau sagte es und zitterte dabei, was Lilly als Zeichen einer Lüge wertete.
Als die falsche Polizistin die Hand nach ihrer Wange ausstreckte, machte Lilly einen Schritt zurück. Augenblicklich donnerte es. Der Schuss sprengte den Himmel.
Lilly wurde zur Erde gerissen. Und von dort fiel sie weiter, in ein tiefes Loch. Vergeblich strampelte sie. Ihr Körper gehorchte ihr längst nicht mehr. Die Arme wurden taub.
Das Knallen wollte nicht mehr aufhören. Als sie am Boden aufschlug, wurde ihr Schwarz vor Augen.