Kapitel 62
Voller Abscheu und mit steifen Fingern umklammerte Kolka Kinn und Unterkiefer des Mädchens, um es aufrecht zu halten. Doch die Muskeln erschlafften augenblicklich. Der Körper nahm das Gewicht eines Steins an, drängte zur Erde. Von einem Moment auf den anderen war das Leben aus Emma gewichen.
Beide fielen.
Selbst die Kraft zum Schreien fehlte Kolka mit einem Mal. Zitternd und würgend kam sie auf dem toten Leib des Mädchens zum Liegen. Der Anblick, der sich ihr bot, kam einer abartigen Hinrichtung gleich. Das Geschoss hatte den Schädel seitlich am Hinterkopf getroffen, hatte die Haare an der Stelle versenkt, Haut und Knochen gesprengt und Hirn und Arterien zerfetzt. Im Restlicht des Tages glänzten abscheuliche rote und graue Fetzen.
Entsetzt vom Anblick des Grauens schloss Kolka für Sekunden die Augen. Erst mit einiger Verzögerung bewegte sie sich von dem toten Mädchen weg. Als der Verstand wieder einsetzte, zog sie hastig ihre Pistole. Ihr Hände waren blutverschmiert. Die Finger fühlten sich glitschig an. Dazu tropfte ihr das fremde Blut von der Nase und lief ihr von der Stirn in die Augen. Der Metallgeruch überlagerte den Harzduft.
Die Kohlmeise hatte aufgehört zu singen. Eine brutale Stille erfüllte die Gegend vor dem finalen Schuss.
Von blinder Wut ergriffen, feuerte Kolka in die Richtung, in welcher sie den Angreifer vermutete. Die Projektile verloren sich im Wald. Doch als das Echo der Salve verhallte, kehrte die qualvolle Lautlosigkeit zurück.
Sie konnte nicht sagen, wie lange sie auf der klammen Erde lag. Erst der Humusgeruch brachte sie zur Besinnung. Sie lebte. Und das sollte sich heute nicht ändern.
Du bist da draußen! Und du willst jagen, ja? Willst du das?
Sie kroch wenige Meter über den Boden, um Deckung hinter einer halb herausgerissenen Riesenwurzel zu finden.
Ich schwöre, ich spiele nie wieder einen Ego-Shooter.
Der irre Anflug von Übermut verging, als Kolka nach der leblosen Emma spähte. Sie hasste sich für ihre Gedanken. Das junge Mädchen würde nicht zu denen gehören, die am Abend in ihr Zuhause zurückkehrten.
Verflucht, so viele Tote! Wir haben keinen einzigen Menschen gerettet!
Ihre Gedanken reisten weiter. Zu Lilly, die bereits einmal gerettet war.
Bis ich versagt habe.
Über Kolka zerbarst Baumrinde mit einem Knall. Sie warf sich zur Seite. Eine Sekunde später feuerte sie aus ihrer Deckung. Die Jagd war noch nicht zu Ende. Der Jäger hatte noch nicht genug.
Sie ist Beute.
Auf einmal ergab der Satz auf der Rückseite des aufgefundenen Fotos von Lilly Sinn. Das Bild, welches Kolka in Brechts Büro unter dem Schreibtisch gefunden hatte. Der Weiße Wolf war nach Deutschland gekommen, um zu jagen. Sie wusste es in dem Moment, als sie ihre zitternden und blutigen Hände betrachtete.
In Wahrheit war Lilly Brechts Kind. Auch wenn das heimliche Untersuchungsergebnis das so explizit nicht wiedergab, ließ es nur diesen einen Schluss zu. Und der genarrte Vater hatte es irgendwie herausgefunden und für diesen Verrat bittere Rache geschworen. Rache, die über den Menschenverstand hinausging.
Der böse Mann, von dem Lilly immerzu gesprochen hatte, war ihr vermeintlicher Vater selbst gewesen. Felix Brandner! Er hatte sich am Ende von der Polizei finden lassen, um den Aufenthaltsort von Lilly zu erfahren. Er hatte sich eigene Verletzungen beigebracht, hatte sein Blut im Kühlhaus verteilt, seine Geldbörse absichtlich liegen gelassen sowie gehungert und kaum etwas getrunken. Er hatte gewusst, dass sich Brechts Frau in der Villa der Witwe verstecken würde, er kannte den Alltag der meisten Opfer. Er hatte verschleppt und gemordet.
Felix Brandner! Der Wahnsinnige hatte es sich zum Ziel gesetzt, seine Frau, sein Kuckuckskind und Brechts Familie auszulöschen. All diejenigen, die ihn vermeintlich hintergangen hatten.
Und nun gab es nur noch Lilly.
Ein weiteres Donnern aus einem Gewehrlauf folgte. Kolkas Gedankenspiel wurde unterbrochen. Holzsplitter und Rinde flogen scharf an ihrem Ohr vorbei. Der Einschlag des Projektils ließ den Stamm, hinter dem sie Deckung gesucht hatte, spürbar vibrieren. Erst nach einiger Zeit bemerkte Kolka, dass sie die Augen geschlossen hielt.
Sie lauschte. Alles blieb still.
Bis sie das leichte Knacken hörte. Schritte, die sich näherten. Sie drückte die P7 gegen die Brust, unterließ es, zu atmen, um jedes Umgebungsgeräusch mitzubekommen. Misstrauisch betrachtete sie den Magazinboden.
Waren das sechs oder sieben abgegebene Schüsse? Mist, ich habe nicht mitgezählt.
Zu spät, um nachzuladen. Als sie den Angreifer nah genug vermutete, wirbelte sie aus ihrer Deckung hervor und feuerte. Ein Schuss, dann blieb der Pistolenschlitten hinten. Getroffen! Der Mann war zu Boden gegangen.
Nein!
Er rappelte sich wieder auf und hechtete auf sie zu. Sie ließ das leere Magazin aus dem Griffstück gleiten, langte nach dem Ersatzmagazin.
»Anne!«, hörte sie es wie in einem Traum.
Sie ertappte sich, wie sie lächelte. In dieser herzlosen Situation, an diesem gnadenlosen Ort, musste sie lächeln.
Erik!
Er kam schnell und warf sich auf sie.
»Ich bin es, Erik! Es ist alles gut.«
Es ist alles gut …
Mit einem Stoß löste sie sich von ihm.
»Nichts ist gut!«, schrie sie ihn an.
Er legte die Finger auf ihre Lippen.
»Nichts ist gut!«, wiederholte sie. »Das Schwein hat Emma Brecht abgeknallt. Und jetzt hat er es auf Lilly abgesehen!« Sie wollte losheulen – was sie dann auch tat.
Erik stand nur da und schaute nach dem toten Mädchen.
Bis ein erneuter Schuss den Abendhimmel erfüllte. Bestünde das Firmament aus Glas, hätte er es zum Beben gebracht.
»Lilly!«, sagten beide gemeinsam.