Kapitel 30
Die unguten Gefühle ließen sich nicht verdrängen. Neben der Sorge um ihren Ehemann haderte Sabrina Brecht mit der Dreistigkeit dieser Kriminaloberkommissarin. Annegret Kolka!
»So ein respektloses Weibsstück!«
Die Visitenkarte der Beamtin bebte in den Fingern von Sabrina Brecht, derart hatte sie die Befragung aufgeregt.
Sie ist Beute.
Nein, Sabrina Brecht konnte sich keinen Reim darauf machen, was dieser Satz zu bedeuten hatte – noch dazu in Verbindung mit dem Foto. Sie wüsste nicht, weshalb sich das Bild von Lilly Brandner im Büro ihres Mannes befand, hatte Sabrina Brecht wahrheitsgemäß auf die Frage der Kommissarin geantwortet.
Wütend zerknitterte sie die Visitenkarte und ließ sie auf den Boden fallen. Direkt auf den teuren Kaschmirteppich, der absolut hässlich aussah, wie sie fand.
Sie stand auf und wanderte in dem Gästezimmer umher. Aus dem Salon drangen die pompösen Instrumentalklänge klassischer Musik.
Götterdämmerung!
Musste ihre Freundin ausgerechnet heute die Oper von Richard Wagner anhören? Sabrina Brecht griff sich an den Hals. Neben dem ständigen Schwächegefühl der letzten Tage kam auch noch ein stechender Schmerz im Rachenraum hinzu. Ein Kratzen, das stündlich an Intensität zunahm. Eine Erkältung konnte sie derzeit überhaupt nicht gebrauchen. Sie benötigte die verbliebenen Kräfte, um das Verschwinden von Klemens zu überstehen. Als Frau eines starken Mannes musste sie ebenfalls stark bleiben! Wenn es notwendig war, würde sie die Dinge auch auf eigene Faust klären.
Zur Ablenkung spähte sie aus dem Fenster in den weitläufigen Garten. Die Nacht raubte der üppigen Pflanzenpracht die Individualität. Büsche und Bäume ergaben einen einzigen Schattenvorhang. Irgendwo da unten mussten die Polizeibeamten stehen, die die Villa rund um die Uhr bewachten. Und irgendwo da draußen lief ein Monster herum, das ihren Mann entführt hatte.
Sie ist Beute.
Wozu diese Entführungen? Warum ausgerechnet Klemens? Er war so ein guter Mensch!
Ja, sie hatten ein paar Beziehungsprobleme und sie hatte ihn vor Kurzem zum Teufel gewünscht, aber deswegen musste er nicht gleich verschwinden. Seine Affären hatte sie ihm längst verziehen. Sex war nicht alles im Leben, dafür hatte es in der Vergangenheit zu viele schöne Stunden gegeben. Sofort kamen ihr die Tränen. Sie tupfte sich die laufende Nase und erkannte in der Fensterscheibe ihr widerspiegelndes Antlitz. Ihre Locken hatten an Schwungkraft eingebüßt, ihre Wangen wirkten hohl. Die Knochen traten unter ihrer Haut deutlich hervor. Sabrina Brecht hatte zuletzt wenig gegessen. Ein leichtes Spiel für Erkältungsviren.
Sie verstand nicht, was um sie herum passierte. Sie verstand nicht, was das Foto von Lilly im Büro ihres Mannes zu suchen hatte. Vielleicht hatte sich die dienstbeflissene Beamtin geirrt. Vermutlich hatte sie im Übereifer etwas verwechselt. So musste es gewesen sein! Wer wusste schon, woher diese Kolka das Foto tatsächlich hatte? Aus dem Fernsehen kannte man ja die Psychotricks der Polizei, sobald diese nicht weiterwussten. Und bisher hatten die von der Kripo viel geredet und wenig zur Aufklärung des Entführungsfalls beigetragen. Sabrina Brecht mochte die Kommissarin nicht. Auch nicht die Polizei im Allgemeinen.
Täglich waren Leute mit Dienstausweisen in der Villa aufgetaucht und wieder gegangen. Beamte vom LKA hatten sich als Mitarbeiter der Verhandlungsgruppe vorgestellt und Sabrina Brecht und ihre Tochter instruiert. Stundenlang hatten sie auf die beiden eingeredet, ihnen exakte Verhaltensanweisungen gegeben: präparierte Handys von der Polizei, Kontaktsperre zu Angehörigen und Fremden, keine eigenmächtigen Ausflüge.
Für die vierzehnjährige Tochter war es am schlimmsten. Sie litt unter dem Eingesperrtsein am meisten. Wiederholt hatte sie sich über die Verbote hinweggesetzt und Möglichkeiten gefunden, mit der Außenwelt zu telefonieren.
Die Operntöne nahmen an Lautstärke zu. Die Götterdämmerung strebte ihrem Höhepunkt entgegen. Ihre Freundin, die Hausherrin, hatte wie einst Richard Wagner an der Universität Leipzig Musik studiert. Die vierzigjährige Witwe hatte wenig Talent, was Musikinstrumente anging, dafür hatte sie als junges Ding einen reichen Unternehmer geheiratet und später das Grundstück und viel Geld geerbt.
Obwohl das Haus verschwenderisch groß und gleichzeitig irgendwie still wirkte, fühlte sich Sabrina Brecht bei ihrer Freundin geborgen. Zudem besaß die Villa eine Alarmanlage und Videoüberwachung für die wichtigsten Bereiche. Angeblich war die Technik auf dem neusten Stand. Aber was hieß das schon?
Trotzig durchmaß sie den Raum Richtung Tür. Sie wollte in die Küche gehen und sich einen Tee gegen die Halsschmerzen zubereiten. Eventuell lenkte sie das ab. Plötzlich vernahm sie den SMS-Ton ihres eigenen Handys. Sie hatte es für ein paar Minuten angeschaltet, weil sie die Hoffnung hegte, Klemens würde sich zuerst bei ihr melden. Mit zittrigen Fingern schaute sie nach dem Absender.
Es war Emma, ihre Tochter.
Komisch, sie hielt sich im Nebenzimmer auf und hätte nur klopfen müssen, wenn sie etwas wollte. Kopfschüttelnd las Sabrina Brecht die Nachricht.
Bitte komm mal zum Pumpenhaus am Swimmingpool. Ich habe eine SMS von Papa erhalten. Alles wird gut! Er sagt, du sollst allein kommen. Die Bullen stehen am Geräteschuppen und an der Garage.
Sogleich verspürte sie Angst. Hitze stieg wie in einem überlaufenden Kessel in ihr auf. Sie fasste sich am rechten Ohr. Es glühte. Die Halsschmerzen waren wie weggeblasen. Dafür versagte ihr die Stimme. Ein hohles Keuchen verließ ihre Kehle, als sie den Namen ihrer Tochter rufen wollte. Die Polizisten! Sie musste die Beamten alarmieren. Den Notruf wählen. Nein, die Nummer von dem Kontaktmann der Verhandlungstruppe. Für wenige Sekunde schwebte ihr Daumen über der Kurzwahltaste. Sie wollte tausend Dinge auf einmal tun. Schließlich besann sie sich und lief zu der Kommode, wo sie eine Pistole versteckt hielt. Ein Geburtstagsgeschenk ihres Mannes für den Fall der Fälle.
Wenn es wirklich eine Nachricht von Klemens war, dann musste sie dieser nachgehen. Ja, die Heimlichtuerei passte zu ihm. Ich muss etwas klären, hatte Klemens kurz vor seinem Verschwinden zu ihr gesagt. Von Anfang an hatte er der Polizei kein Vertrauen geschenkt.
Sie vertraute ihm.
Euphorisiert von der Botschaft ihrer Tochter kniete sie sich so tief über den Boden, dass ihr Kinn fast den Teppich berührte, und spähte unter das Möbelstück. Im Halbdunkel glänzte die Pistole. Unsicher, ob sie das Richtige tat, stierte sie die Waffe eine Weile an. Schließlich griff sie entschieden danach und prüfte den Ladezustand.
Acht Schuss.
Sie hatte nicht schießen gelernt, um im entscheidenden Moment nicht Gebrauch von der Pistole zu machen. Außerdem bestand auf dem Grundstück keine Gefahr. Es gab die Kameras, die Polizei und den meterhohen Zaun. Fort Knox konnte nicht besser bewacht sein. Zudem wusste niemand, wo sie und ihre Tochter sich aufhielten. Nicht einmal Sabrina Brechts eigene Eltern hatte man informiert.
Vorsichtshalber wählte sie die Nummer von Emma. Der Rufton hallte lange in ihrem Ohr. Sie stellte sich schräg zum Fenster und spähte in Richtung Swimmingpool, ob irgendwo das Handydisplay von der Tochter aufleuchtete. Nur graue Schatten. Irgendwann sprang die Mailbox an. Insgesamt dreimal versuchte es Sabrina Brecht.
»Hoffentlich ist das kein Scherz, mein Liebes!«, fluchte sie. Sollte sie wenigstens ihre Freundin verständigen?
Besser nicht. Sie wollte die Gutmütigkeit der Witwe keinesfalls überstrapazieren, zumal sie ziemlich launisch sein konnte. Vermutlich war sie ohnehin im Sessel eingeschlafen.
Sabrina Brecht nahm sich eine Strickjacke aus ihrem halb ausgepackten Koffer und schob ihre Hand mit umklammerter Pistole in die Jackentasche. Ohne besonders leise zu machen, lief sie das Treppenhaus ins Erdgeschoss und durch die Hintertür in den Garten. Beim Rausgehen warf sie einen Blick zur Kamera, an der ein roter Lichtpunkt leuchtete.
Mit großen Schritten huschte sie zum Pumpenhaus. Leise rief sie den Namen ihrer Tochter. Die Nacht antwortete mit einem Echo und dem Konzert von allerlei Insekten. Sie erschrak, als sich eine schattenhafte Hand auf ihre Schulter legte. Dann merkte sie, dass es ein riesiger Falter war. Erleichtert atmete sie aus und schlich um die Baracke herum.
Plötzlich bemerkte sie die Umrisse ihrer Tochter hinter einem Baum. Sie trat hervor und kam schnell auf sie zu. Doch der Körperbau war zu wuchtig für den von Emma.
Das war niemals ihre Tochter!
Das Letzte, woran sich Sabrina Brecht erinnerte, war das Fallen der Pistole ins Gras.