Kapitel 25

 

Dieser fremde, kalte Raum hatte selbst sechzig Minuten nach Nina Richters Aufwachen kein bisschen von seinem Schrecken verloren. Der Betonboden war brüchig und mit Flecken übersät. Flecken, von denen sie sich nicht vorzustellen wagte, woher sie stammten. Sobald man sich im Zimmer bewegte, war es unmöglich, allen Flecken auszuweichen. Obwohl Nina auf Zehenspitzen ging, traten ihre nackten Füße in schimmeligen oder klebrigen Schmutz.

Ein paar Mal hatte sie um Hilfe geschrien, doch ihr war bereits beim ersten Rufen bewusst gewesen, dass man sie entführt hatte und der Entführer ihr ein Entkommen nicht leicht machen würde. Am Anfang hatte sie kurz daran gedacht, den einzigen Holzstuhl zu zertrümmern, um eines der Stuhlbeine als Schlagwaffe zu benutzen. Aber dieses Vorhaben war ihr lächerlich vorgekommen. Indem sie Widerstand leistete, verschlimmerte sie ihre Lage noch.

Also wartete sie.

Während ihre Wangen feucht wurden, ärgerte sie sich über ihre eigene Dummheit. Sie hätte bei Donner bleiben sollen. Er hätte sie beschützen können. Sofort darauf schüttelte sie den Kopf. Nein, dann hätte man sie am Folgetag abgefangen und verschleppt.

Einem Herzaussetzer nahe, wartete sie, dass die Tür in ihrem Blickfeld aufging und etwas passierte. Egal was. Vermutlich etwas Schlimmes.

Beim fünften Versuch, die verschlossene Tür irgendwie aufzubekommen, hatte sie es aufgegeben. Der massive Tisch, auf den sie ihre Stirn sinken ließ, schenkte keinen Funken Trost. Bei der Masse und der Größe fragte sie sich, wie der Tisch überhaupt durch die Tür gepasst hatte. Das Ding ähnelte mehr einem Fleischerklotz.

Als ihr das Zeitempfinden vollends zu entgleiten drohte, klapperte ein Schlüssel im Schloss. Nina sprang vom Stuhl auf und tapste rückwärts, bis ihr Rücken an die feuchtkalte Wand stieß. In rascher Folge betraten zwei Männer den Raum. Ein dritter folgte mit zeitlichem Abstand.

Unter einem heftigen Echo wurde die Tür zugeschmissen.

Die Männer sahen nicht lüstern aus. Da war etwas anderes in ihrem Blick: Blutdurst.

Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, bei allem, was passierte, keinerlei Schwäche zu zeigen, fing sie unkontrollierbar an zu wimmern. Mit Händen und Armen versuchte sie, so gut es ging, ihren Schambereich und die Brüste zu bedecken. Sie erkannte Pavel. Mit ihm hatte sie ein flüchtiges Verhältnis Jahre zuvor. Als Türsteher hatte er sie und Donner ins Atmosfera gelassen. Jetzt sagte seine Miene: »Du falsche Schlange wirst schon sehen, was du davon hast.«

Der Kleinste von den dreien – wenn man überhaupt von klein sprechen konnte – sah etwas zurückhaltender aus als seine beiden Begleiter. Er stand nur stumm da und hielt die Hände verdeckt hinter dem Rücken.

»Hinsetzen!«, kommandierte derjenige, der den Raum zuletzt betreten hatte. Er war ein gewaltiger Mann mit großen, behaarten Handrücken. Wie ein schwankender, unberechenbarer Gorilla stapfte er heran. Sein osteuropäischer Akzent machte die Situation noch weit bedrohlicher. Lediglich sein rechtes Ohr fiel aus dem Rahmen. Es war deutlich kleiner als das andere.

Nina war zu gelähmt, um handeln zu können.

»Dawei!«, brüllte der Wortführer und schmiss einen Hammer auf die Tischplatte.

Vom Poltern aus der Erstarrung geweckt, machte sie einen Satz nach vorn, zog den Stuhl zu sich und setzte sich schnell.

»Näher.«

Sie gehorchte und rückte wie beim Essen an den Tisch.

»Gut.« Es klang wie gutt. »Ich bin der, den ihr Bullen sucht. Ich bin Igor.«

»Werden Sie mich umbringen?«

Igor blickte unzugänglich auf sie herab. Pavel grinste und kreiste mit den Schultern. Die Bewegung sah aus, als machte er Entspannungsübungen für die Nackenmuskeln. Er genoss ihre Angst sichtlich. Der Kleine blieb bewegungslos stehen und stierte sie statuenhaft an.

»Njet«, verneinte Igor, nachdem er sie eine Weile bloß angesehen hatte. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch niemanden umgebracht.«

Nina glaubte ihm kein Wort. »Aber Sie haben nicht vor, mich gehen zu lassen, sonst hätten Sie mir Ihren Namen nicht verraten«, nahm sie ihm die Gewissheit vorweg. Dabei konnte sie das Zittern in ihrer Stimme nicht im Mindesten verbergen.

»Das hängt von dir ab, wie gut du bist.«

Pavel lachte.

Sie zuckte zusammen, als Igor eine Handvoll Zimmermannsnägel auf die Tischplatte legte. Spitze, vollkommen gerade Stahlstifte von gut zwanzig Zentimeter Länge.

»Kannst du dir vorstellen, warum man mich den Nagel nennt?« Die Frage beinhaltete bereits die Drohung. »Mehr als sieben habe ich noch nie gebraucht.«

Nina rutschte erschrocken auf die Stuhlkante, um sprungbereit zu sein. »Was wollen Sie von mir?«

»Ich will von dir wissen, wer meinen Namen kennt und warum die Polizei nach mir sucht. Ich will wissen, wer für den Schaden meiner beschlagnahmten Kristallfiguren aufkommt. Und ich will alles über den Kommissar wissen, den man Monster nennt.«

Nina schaffte es nicht, dem bulligen Wortführer in die dunkelbraunen, bösen Augen zu sehen. Deshalb orientierte sie sich an einem anderen Fixpunkt.

Jetzt erst erkannte sie die Scharten, Löcher und Kratzspuren auf der Tischoberfläche. Ihr Gehirn hatte die eindeutigen Spuren der Gewalt verdrängt. In diesem Moment nahm Igor einen Nagel und den Hammer zur Hand.

Bevor sie um Gnade flehen konnte, packte Pavel ihren rechten Arm und zwang ihn auf die Tischplatte. Sie wehrte sich, aber gegen die Kraft des Muskelbergs war sie machtlos.

Die Spitze des Nagels berührte ihren Handrücken.

Dann folgte der erste Schlag.

Später, als ihre Schreie aufhörten, als ihr Haar wellenartig, voller Tränen, Speichel und Blut auf der Tischplatte lag, als sie den drei Männern alles gesagt hatte, was sie wusste – und sie wusste wahrhaft wenig –, da rammte der Kleinste, der der sich zuvor so still verhalten hatte, ein weiteres Werkzeug auf der Tischseite ihr gegenüber ins Holz.

Kraftlos schaute Nina auf.

Als sie den Schraubendreher erfasste, musste sie unwillkürlich an das Schicksal ihrer Schwester denken. Geschunden und mit letzter Verzweiflung, begann Nina zu jammern. Sie wollte die Arme vor ihr Gesicht tun, aber die vier Nägel hielten sie am Tisch fest. Doch viel schlimmer als die Schmerzen war der Anblick des Schraubendrehers. Das Folterinstrument war weit grauenvoller als die Nägel.

»Wir wissen, was man damals mit deiner Schwester gemacht hat«, redete jetzt der Kleine, der Ruhige. »Wenn du nicht willst, dass mit dir das Gleiche geschieht, befreist du dich und rennst.«

Damit ließ man sie allein zurück.

Die Tür stand offen.

Nach unendlich vielen Minuten riss Nina den Blick von dem Schraubendreher los und betrachtete die Köpfe der Nägel, die blutig aus ihrer Haut schauten.

Ihr blieb keine Wahl, wenn sie weiterleben wollte.

Blut und böser Mann
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