Kapitel 8

 

Lilly Brandner kroch. Sie hatte jegliches Empfinden für Zeit und Raum verloren. Sie kroch einfach immer weiter. Ihre Umgebung bestand aus dunklen, stinkenden Betonröhren, an denen sie sich die Haut aufschürfte. Ihr Fluchtweg war so schmal, dass sie ihre Schultern gerade so auf allen vieren hindurchschieben konnte.

Am Anfang, als sie das Gitter hinter sich geschlossen hatte, hatte sie gedacht, die Enge würde ihr die Luft zum Atmen nehmen. Die Befürchtung war bald gewichen. Stattdessen hatte es sich irgendwann nicht mehr so fremd angefühlt.

Einige Zeit hatte sie die Umgebung an den glitschigen Magen eines Ungeheuers erinnert. Mit jedem Meter hatte sich auch diese Furcht ein Stück gelegt. Das Labyrinth aus einer anderen Welt war zu ihrer neuen Heimat geworden. An manchen Stellen tropfte Wasser herunter, das sie mit dem Mund auffangen konnte, sobald sie sich auf den Rücken drehte, und es gab Käfer und Insekten, die zwischen ihren Fingern krabbelten und ihr als Nahrung dienten. Lange Zeit hatte sie sich davor geekelt, aber am Ende war der Hunger so groß, dass sie einen Käfer zerdrückt und ihn in ihren Rachen gestopft hatte. Beim ersten Versuch hatte sie ihn wieder in die Hand gespuckt und danach den Brei mit viel Überwindung und heftigem Würgen runtergeschluckt. Zum Glück sah sie niemals, was sie aß. Sie spürte die strampelnden fadenartigen Läufer und das Flügelschlagen der Tierchen. Sobald sie zubiss, war es vorbei. Dann schmeckten die Käfer beinahe wie die fettigen Fleischstücke in der Suppe bei Oma.

So richtig konnte sie sich nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal bei Oma gegessen hatte. Selbst die Erinnerungen an ihr Kinderzimmer verblassten mit jedem Meter, den sie vorwärtskroch. Die Gesichter ihrer Puppen sahen in ihrer Vorstellung schwarz und verfault aus. Wie die Umgebung in diesem Kanalsystem.

Als wäre sie als Reptil geboren, kroch sie durch den Abfall. Haare, Fäden, feuchte Erde, durchnässtes Zeitungspapier und Kot klebten an ihren Fingern. Dreck, verrottete Stoffreste und Spinnenweben hingen in ihren Haarsträhnen. Die Knie brannten. Die Haut war entlang der Beine aufgeschürft. Der Schmutz befand sich in jeder Hautritze. Unter den Fingernägeln, in den Ohren, zwischen den Pobacken. Selbst auf den Backenzähnen knirschten die Sandkörnchen.

Sie hörte nicht auf zu kriechen, obwohl die Müdigkeit fast unvorstellbar wurde. Auf keinen Fall wollte sie sich in dieser Dunkelheit ausruhen. In der Dunkelheit wurde man gefangen. Das wusste jedes Kind. Die Dunkelheit gehörte dem bösen Mann.

Dem Mann, dem sie durch einen Zufall entkommen war.

Ihre Familie und Verwandten hatte sie stets für ihre Turnübungen im Garten gelobt. Sie war gelenkig wie eine Ballerina. Dabei spielte sie lieber Fußball und raufte mit den Jungs aus ihrer Klasse. Jetzt zahlte es sich aus, dass sie im Sportunterricht nur Einsen bekam.

Es war ein Spiel. Eine Mischung aus Verstecken und Fangen.

Der böse Mann durfte sie nicht kriegen.

Einmal wäre es beinahe passiert.

Der böse Mann hatte sich als ihr Vater ausgegeben, aber auf diesen Trick war Lilly nicht hereingefallen. Er hatte von oberhalb der Öffnung, wo der Mond hinter den Wolken geschienen hatte, in den Abfalltunnel hinabgeblickt. Von dort, wo zuvor der strubbelige Mann mit der Taschenlampe gestanden hatte. Dann war der strubbelige Mann mit der Taschenlampe verschwunden. An seiner Stelle war der böse Mann erschienen und hatte sie aufgefordert zu bleiben, wo sie war.

Aus Angst vor ihm und weil sie klug war, war sie weitergekrochen. Wie ein Reptil auf der Flucht.

Sie hatte nicht geschlafen und sie hatte Insekten gegessen. Er sollte sie kein zweites Mal einfangen.

Sie musste einen Ausgang aus dem Labyrinth finden. Sie musste Hilfe holen und danach Mama und Papa retten. Der böse Mann war hinter ihr her. Zum Glück war er zu groß für das Labyrinth. Das Labyrinth war nur für Insekten und Kinder gedacht.

Sie hoffte nur, dass der böse Mann am Ausgang nicht auf sie wartete.

Blut und böser Mann
titlepage.xhtml
index_split_000.html
index_split_001.html
index_split_002.html
index_split_003.html
index_split_004.html
index_split_005.html
index_split_006.html
index_split_007.html
index_split_008.html
index_split_009.html
index_split_010.html
index_split_011.html
index_split_012.html
index_split_013.html
index_split_014.html
index_split_015.html
index_split_016.html
index_split_017.html
index_split_018.html
index_split_019.html
index_split_020.html
index_split_021.html
index_split_022.html
index_split_023.html
index_split_024.html
index_split_025.html
index_split_026.html
index_split_027.html
index_split_028.html
index_split_029.html
index_split_030.html
index_split_031.html
index_split_032.html
index_split_033.html
index_split_034.html
index_split_035.html
index_split_036.html
index_split_037.html
index_split_038.html
index_split_039.html
index_split_040.html
index_split_041.html
index_split_042.html
index_split_043.html
index_split_044.html
index_split_045.html
index_split_046.html
index_split_047.html
index_split_048.html
index_split_049.html
index_split_050.html
index_split_051.html
index_split_052.html
index_split_053.html
index_split_054.html
index_split_055.html
index_split_056.html
index_split_057.html
index_split_058.html
index_split_059.html
index_split_060.html
index_split_061.html
index_split_062.html
index_split_063.html
index_split_064.html
index_split_065.html
index_split_066.html
index_split_067.html
index_split_068.html
index_split_069.html
index_split_070.html
index_split_071.html
index_split_072.html
index_split_073.html