Kapitel 38
Allein der Vollmond mochte ahnen, was Donner vorhatte, als er mit seinem alten Mitsubishi über sämtliche rote Ampeln raste. Zorn beschrieb nicht im Geringsten, was in Donner brodelte. Vielleicht war es Raserei, vielleicht fühlte sich so der Moment an, kurz bevor man Amok lief.
Als er den Kopf hinüber zum Beifahrersitz drehte und das Päckchen anstarrte, schüttelte es ihn, als hätte er einen vergifteten Brei geschluckt.
Dein Fehler, Bulle!
In krakeligen Buchstaben stand dieser Satz auf der Innenseite des Pappdeckels. Eine Warnung, die man lieber nicht ignorierte.
Donner tat es dennoch.
Ununterbrochen dachte er an das im Karton verpackte Ohr. Bei genauerem Hinsehen hatte er auch dort ein orangefarbenes einzelnes Haar entdeckt. Exakt die Farbe wie bei der Strähne, die unter dem Klebeband gehaftet hatte. Im Läppchen befand sich ein bläulich glitzernder Ohrstecker. Von der Art, wie Nina Richter sie am Abend seines Geburtstages getragen hatte.
Er weigerte sich daran zu denken, was ihr zugestoßen sein mochte. Doch tief drinnen zerquetschte die Furcht seinen Magen und schaltete jegliche Vernunft aus – wie ein Knopf in einer Steuerzentrale, mit dem man auf einen Schlag eine Maschine lahmlegen konnte.
Bevor er Anne kennengelernt hatte, hatte er sich wie ein Zombie gefühlt. Der Zombie war zurück. Er schaltete einen Gang höher. Das Getriebe kreischte. Auf dem Südring beschleunigter er. Die Tachonadel erreichte den dreistelligen Bereich. Das Gaspedal war sein Wille. Vollgas. Gegen sämtliche Regeln.
Er hatte das Gesicht der Praktikantin klar vor Augen. Die Szene, wie sie in seiner Küche gestanden und er sie beinahe geküsst hatte. Damals hatte er, kurz bevor er ihr die Tür geöffnet hatte, einen Zettel gefunden.
Misch dich nicht ein oder es sterben weitere Unschuldige.
Weil Donner sich nicht hatte einschüchtern lassen, musste nun Nina Richter dran glauben …
Ein Anruf riss ihn für einen flüchtigen Augenblick in die Realität zurück. Doch selbst der neue Klingelton erinnerte ihn an die Praktikantin. Sie hatte ihm das Handy gekauft.
Wie fremdgesteuert nahm er das Gespräch an.
»Erik, wo bist du?«
Es war Anne. Sie rief zum falschen Zeitpunkt an.
»Bin unterwegs«, murrte er. »Muss was klären.«
»Um diese Uhrzeit?« Ihre Stimme verriet, dass sie an der Notwendigkeit seines Ausflugs zweifelte. »Erik, wir haben heute eine Explosion überlebt! Wo solltest du jetzt noch hinmüssen? Ich stehe vor deiner Wohnung und verstehe nicht, was hier gerade passiert. Wo zum Teufel steckst du?«
»Keine Zeit für Erklärungen. Ich muss auflegen.«
»Du klingst komisch.«
Scheiße, neben mir sitzt meine Praktikantin und hört zu.
»Ich besuche dich morgen.«
Wenn es ein Morgen gibt!
»Ich stehe vor deiner Wohnung und du solltest zu Hause sein!« Ihre Stimme war scharf, aber die Besorgnis, die in jeder Silbe mitschwang, drang nicht bis zu ihm durch. »Hier bei mir! So ist das nämlich, wenn man miteinander schläft und der Typ vorher das gesagt hat, was du gesagt hast. Man teilt Dinge: Zeit, Gedanken, Sorgen.«
Er schaute in den Spiegel. Auf der Rückbank lag der Baseballschläger von Frau Schmidt. Den würde er brauchen, wenn er das Atmosfera auseinandernahm. »Glaub mir, ich wünsche mir im Moment nichts sehnlicher, als in deinen Armen zu liegen.«
»Dann komm zu mir!«
»Das geht nicht.«
»Erik, ich habe Angst.«
»Ich auch.«
»Leg nicht auf! Bitte leg nicht auf!«
Er drückte sie weg.
Das tat ihm nicht wirklich leid. Dafür fehlte ihm im Moment das Empfinden. Alles, was er spürte, war das Feuer des Wahnsinns. Der Zombie in ihm brannte und würde Schweine mit sich in die Hölle reißen. Schweine wie den Klubbesitzer Ivan Lutschenko. Donner musste erfahren, was mit Nina Richter passiert war. Andernfalls würde er keine Nacht mehr ruhig schlafen können.
Sekunden später klingelte sein Handy erneut. Es war nicht Annes Nummer. In Gedanken versunken wischte Donner über das Display und führte das Smartphone ans Ohr.
»Sie können nichts mehr für die Dame mit der auffälligen Haarfarbe tun«, sagte eine mechanisch verzerrte Männerstimme.
»Wer bist du?«
»Fahren Sie zum Pfandhaus an der Auffahrt zur Zietenstraße. Dort steigt die Party.«
»Ich werde einen Scheiß tun!« Eine Menschengruppe sprang vor seinem Kühler gerade noch rechtzeitig zurück. Jemand warf dem Auto eine Bierflasche hinterher. Im Seitenspiegel sah er, wie das Glas auf dem Asphalt zerbarst und Flüssigkeit nach allen Seiten spritzte. Donner bretterte mit einem Vorderrad gegen den Bordstein. Angestaut mit Wut bis in den Hals hatte er Schwierigkeiten, den Wagen zu steuern. »Alles, was ich tun muss, ist, dich zu finden!«
Für drei Atemzüge verstummte der Anrufer, ehe er erneut in den Hörer dröhnte. »Das ändert aber nichts am Schicksal der Frau! Sollten Sie nicht zum Pfandhaus fahren, wird der Fidschi der Nächste sein. Ihnen bleiben weniger als dreißig Minuten.«
Am anderen Ende wurde aufgelegt.
Das Atmosfera kam in Sichtweite. Die Schlange der Wartenden kroch im Mondlicht vorwärts und verschwand nach und nach im Schlund der Sünde. Im Magen des Klubs gab es möglicherweise Antworten auf den Verbleib der Praktikantin.
Donner lenkte den Wagen am Gebäude vorbei. Gut fünfzig Meter entfernt parkte er den Mitsubishi an der Stirnseite eines Mehrgeschossers. Die Scheinwerfer erloschen, fast vollständige Dunkelheit umgab ihn. Er blickte auf die Rückbank, wo der Schläger lag. Wenn er es tatsächlich schaffte, an sämtlichen Türstehern vorbeizustürmen und Lutschenko das abgeschnittene Ohr ins Maul zu stopfen, verlor er möglicherweise den Vietnamesen Lu.